Forschung & Lehre 9/2019
moderne Erkenntnis war teleologisch ausgerichtet. Die Platonsche Ideenlehre und die Aristotelische Entelechie bele- gen dies ebenso wie die christliche Dogmatik der Kirchenväter: „Es gibt gewisse Regeln, die man meines Erach- tens einem, der sich mit dem Schriftstu- dium befaßt, nicht ohne Nutzen mittei- len kann. Man tut sich dann leichter, sowohl bei der Lektüre solcher Autoren, die den in den göttlichen Schriften ru- henden Wahrheitssinn bereits erschlos- sen haben, als auch dann, wenn man ihn andern seinerseits wieder erschlie- ßen soll. Diese Regeln nun will ich de- nen übermitteln, die sie kennen lernen wollen und sollen“, schreibt Augustinus im Vorwort zu seiner Wissenschaftsleh- re „De doctrina christiana“ (397/426). Erkenntnis war der Nachvollzug einer vorausgesetzten, schon vorab als sinn- voll aufgefassten Wahrheit. Lehre war nach diesem Verständnis die Aufdeckung der bereits exis- tierenden und lediglich ver- borgenen Wahrheit. Lernen als Nachvollzug: Zuhören, me- morieren, referieren, kommen- tieren. Mit der Wahrheit zugleich werden ihr Sinn und ihre sittliche Bedeutung gelehrt. Der Lehrende hat Autorität, weil er an dieser Wahrheit bereits teil- hat. Weil es diese Wahrheit manifest gibt, kann man die Autoren, die an ihr teilhaben, kanonisch im „Lehrplan des Abendlandes“ (Josef Dolch) als die „Sieben freien Künste“ tradieren. Die kanonischen Texte werden kommen- tiert. Erkanntes wird doziert, also mög- lichst so gelehrt, wie es „eigentlich“ ge- meint war. Erst Galilei wird sich gegen diese Lehrform und das Argument, seine Er- gebnisse widersprächen aber der Lehre des Aristoteles, wehren. Sein epoche- machendes Argument: Er bezweifele ja nicht, dass Aristoteles dergleichen gesagt habe; aber er bezweifele, dass es wahr sei, was Aristoteles gesagt habe. Mit dieser Unterscheidung beginnt die Moderne: Etwas gilt nicht, weil eine Autorität es gesagt hat, sondern es gilt, weil es methodisch begründet ist. Wahr- heit wird nicht mehr material vorausge- setzt. Vielmehr wird Wahrheit als regu- lative Idee angesehen, als Anspruch, unter dem alles steht, was man Er- kenntnis nennen will. Wissenschaft wird nicht mehr als Weitergabe von Wahrheit verstanden, sondern als Suche nach Erkenntnis unter dem Anspruch von Wahrheit: Forschung. Damit diese Suche weder dogmatisch wird, noch nur Meinung ist, bezieht man sich auf Verfahren, die intersubjektiv gültig oder zumindest konsensual anerkannt sind – die Methode: Wenn Quecksilber sich in einem bestimmbaren Maße ausdehnt, nennt man dies 1 Grad. Diese epistemische Veränderung, nach der Erkenntnis sich selbst jedes Mal methodisch bewähren muss, ver- ändert auch die universitäre Lehre – und zwar grundlegend. Denn nun gilt nicht etwas, weil eine Autorität es gesagt hat, sondern von nun an gilt et- was nur, wenn jeder das hypothetische Wissen an jedem Ort zu jeder Zeit nachprüfen kann. Und daher besteht alle wissenschaftliche Lehre in der Darlegung, mit welcher Methode man zu Ergebnissen gelangt ist, die Geltung beanspruchen wollen. Wissenschaft ist Methode. Lernen heißt dann, etwas auf seine Geltung hin prüfen. Die Methode ist Lehrendem und Lernendem gleich zugänglich. Die Bedeutung der Er- kenntnisse kann nun nicht von der Forschung selbst festgelegt werden, wie in der teleologischen Konzeption in Antike und Mittelalter: Abgesicherte Forschungsergebnisse bleiben wahr, auch wenn sie völlig zwecklos sind. Über die Zwecke der Forschungsergeb- nisse wird in einem eigenen Diskurs re- flektiert, der von der Gesellschaft, der Ökonomie oder der Politik (oft mit Macht und Geld) reguliert wird. Diese Reflexionen sagen nichts über die Qua- lität von Forschung aus – wohl aber über den Nutzen für Teilpraxen. (So kann ökologisch schädlich sein, was politisch als sinnhaft angesehen wurde – die Forschungen um die Atombombe belegen dies exemplarisch.) Universitäre Lehre kann also nicht nur auf gefällige Art Forschungsergeb- nisse mitteilen und Absolventen ausbil- den; sie muss sich zudem einer Reflexi- on auf die Grundlagen, die Methoden und mögliche Zwecke stellen und so Absolventen bilden. Universitäres Ler- nen heißt also nichts anderes als Er- kennen , indem man methodisch prüft. Diese Fähigkeit lässt sich nicht lernpsy- chologisch in Teil kompetenzen aufglie- dern und isoliert schulen – weil gerade die fachspezifische Zusammensetzung von Fähigkeiten ihre wissenschaftliche Qualität ausmacht. Juristen und Ger- manisten müssen zwar beide mit Texten umgehen können, aber auf spezifische Art, die die Fachexzellenz allererst her- stellt. Wissen oder Kompetenzen Die Debatte, ob an Universitäten Wis- sen oder Kompetenzen gelehrt werden sollen, verkennt grundlegend (und tra- gisch) die Eigenheit moderner Wissen- schaft und ihrer Lehre. Es gibt kein modernes wissenschaftliches Wissen, dass nicht zugleich die Methode darle- gen müsste, mit der es erarbeitet wurde. Und wissenschaftliche Erkenntnisse entstehen ausschließlich durch Anwen- dung der zur speziellen Wissensgene- rierung notwendigen Methoden: Ob ei- ne Münze der Kaiserzeit des Augustus oder der Konstantins zuzuordnen ist, lässt sich nicht durch Teamfä- higkeit oder fachneutrale Pro- blemlösungskompetenz heraus- finden, sondern nur durch che- mische Analysen und histo- risch-kritische Methoden der Numismatik bestimmen. Sekun- därtugenden (Ich- und Sozialkompe- tenzen) können Forschungsprozesse sozialverträglich begleiten, bringen For- schungsergebnisse aber nicht hervor. Und Sachkompetenz besteht ausschließ- lich im Methodenbewusstsein. Fach- neutrale und psychologische Lerntheo- rien mögen vielleicht darauf hinweisen, dass die Schrift bei der Power-Point- Präsentation lesbar sein muss, die Kon- zentrationsfähigkeit bei den meisten Menschen nach etwa einer Stunde nachlässt und der Vorlesungs- oder Se- minarraum gut gelüftet sein sollte. All dies sind nützliche Tipps, um das Ler- nen angenehm zu gestalten. Aber die hochschuldidaktischen Fragestellungen liegen ganz woanders. Sie liegen in der Frage, durch welche gegenstandskon- stituierenden Methoden ein Fach sich so darstellen kann, dass Studierende lernen, es zu verbessern. Wissenschaft- liche Lehre soll nicht das Bekannte „vermitteln“ (das Bekannte steht ja in Handbüchern, im Internet und kann je- derzeit selbstständig angeeignet wer- den), sondern wissenschaftliche Lehre soll ein Fach so darstellen, dass der Studierende das Bekannte erweitern kann. Allein dazu braucht man For- scher. Lehre angesichts von Forschung meint nicht nur argumentative Bewäh- rung des Bekannten, sondern die Auf- forderung, das Bisherige besser zu den- 804 L E H R E Forschung & Lehre 9|19 »Jede wissenschaftliche Lehre setzt eigenes Forschen voraus, sonst wäre sie Lehre vom Hörensagen.«
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