Forschung & Lehre 9/2019

ken. Wenn dieser Impetus fehlt, kann man nicht mehr von universitärer Lehre sprechen – sondern sollte es als das bezeichnen, was es ist: verschulter Unterricht. An der Universität lehrt man Wissen so, dass die Erweiterungs- fähigkeit das Lernziel ist: Lehre als Forschungsanstoß. Daher unterliegen Dozenten und Studenten dem Anspruch, dass Lehre die Aufforderung zum methodisch kon- trollierten Prüfen von Hypothesen ist – und zwar unter der Maßgabe, dass es in der Wissenschaft zwar einen gültigen „state of the art“, aber keine endgültigen Wahrheiten gibt. Jedes Erkennen (und Lernen ist Erkennen) steht unter Wahr- heits anspruch , ist also stets zu verbes- sern. Der Studierende ist nicht der zu Belehrende, sondern er wird zum Adressaten in einem Dialog, in dem es um das bessere Argument geht. In je- dem Erstsemester kann ein Einstein studieren. Darauf setzt man als Lehren- der. Erforschung des bisher Unbekannten Daher taugen Unterrichtsmethoden, die an Schulen erprobt wurden, selten für die Universität: Schüler lernen das be- reits Erforschte. Studenten hingegen nehmen Teil an jenem Prozess, der sich nicht lehren, sondern nur erproben lässt: an der Erforschung des bisher Unbekannten. Universitäre Lehre besteht daher da- rin, zu lehren, was sich nicht lehren lässt, weil es noch nicht bekannt ist. Ein Paradox. Das Paradox löst sich immer dann, wenn Forschung sich argumenta- tiv mitteilt und Lernen zugleich Infrage- stellen wird. In der komplementären Einheit von Forschung und Lehre. Wenn hingegen universitäre Lehre lediglich als gefällige Weitergabe von Erkanntem konzipiert wird, verfehlt diese Lehre ihren universitären Cha- rakter. Jede Vorlesung, jedes Seminar muss vielmehr unter der Idee gestaltet werden, dass die Lehre Aufforderung zum Forschen ist – beim Dozenten und beim Studenten. Universitäre Lehre soll nicht Ergebnisse der Forschung präsentieren, sondern Probleme der Forschung herausfinden. (Das man dazu die Erträge der Forschung kennen muss, um nicht zum zweiten Mal das Ohmsche Gesetz zu entdecken, versteht sich in der Forschung von selbst.) Sie muss nicht Erkanntes, sondern das Er- kennen lehren. Sie muss nicht „vermit- teln“, sondern auffordern. Man kann, ermutigt durch Erfah- rungen an Elite-Universitäten, die These aufstellen, dass das Niveau universitärer Forschung in Deutschland auf lange Sicht davon abhängt, dass es den Mas- senuniversitäten gelingt, besonders jene Klientel zu fördern, die für ein solches Studium tatsächlich auch befähigt und motiviert ist. Will man hingegen an Universitäten auch jene schulen, die nur lernen, aber nicht studieren wollen, die schnell und praxisorientiert ausge- bildet, aber nicht wissenschaftlich ge- bildet werden wollen, die im Studium motiviert werden müssen und nicht schon motiviert sind, wenn sie zu stu- dieren beginnen – dann werden Uni- versitäten ihre innovative Kraft kosten- intensiv verschwenden. Der Sinn der modernen Universität, ihre Bedeutung für das Gelingen der Menschheit, ist, Erkenntnis unter dem Anspruch von Wahrheit anzustoßen – und nicht, mas- sentaugliche Wissensbestände und af- firmativ Kulturtechniken praxisorientiert „unter das Volk zu bringen“. Das kön- nen Computerlehrprogramme, Fernseh- dokus und VHS-Kurse preisgünstiger. Universitäre Lehre, die den Sinn der Universität ernst nimmt, entsteht immer aus dem Paradox, das Lernen dessen anstoßen zu müssen, was man nicht lehren kann: Wie man nämlich zu neu- en Erkenntnissen gelangt. Die Univer- sität muss lehren, was noch keiner kennt. Erst als solche Institution ist sie auch der Gesellschaft langfristig nütz- lich. Sie ist dann nämlich die einzige Institution einer Kultur, die die gegen- wärtige Kultur so betrachtet, dass sie auf vernünftige Weise verbessert werden kann. Bemisst man hingegen den Wert der Wissenschaft danach, was sie zur herrschenden Kultur beiträgt, so erstar- ren die Universitäten in politischen und sozialen Dogmen und veralten ebenso schnell wie die Automodelle vom letz- ten Abverkauf. Nur wenn die Universi- tät die vorherrschende Kultur unter dem Anspruch von Wahrheit transzen- diert, trägt sie zur künftigen Kultur und ihrem Gelingen bei. Dass dies möglich wird, entscheidet sich in der Lehre. Sie muss so gestaltet sein, dass sie die nächste Generation auffordert, die Tra- dition zu prüfen. Universitäre Lehre heißt: das Bekannte unter Geltungsan- spruch im Dialog zur Disposition zu stellen. Ob dies face to face oder elektro- nisch geschieht, ist hochschuldidaktisch betrachtet so lange völlig unerheblich, wie die Studierenden nicht gesättigt, sondern hungrig aus einer Lehrveran- staltung kommen; nicht belehrt, sondern begierig; nicht zufrieden, sondern beun- ruhigt. Wer in Evaluationen nachfragt, ob eine Veranstaltung den Erwartungen der Teilnehmer entsprochen und etwas für die Praxis gebracht habe, hat den Sinn universitärer Lehre grundlegend verfehlt: Zu fragen wäre, ob die Teilneh- mer fundiert lernen konnten, welche Probleme sie jetzt lösen müssen. 9|19 Forschung & Lehre L E H R E 805 Vorlesung in Bologna ca. 1360–1390 © mauritius-images

RkJQdWJsaXNoZXIy MjMxMzg=