Forschung & Lehre 9/2019

806 L E H R E Forschung & Lehre 9|19 FrischesWissen Lehre als Teamleistung D er Humanmedizin sagt man nach, dass sich das Wissen heutzutage alle fünf Jahre ver- doppele. Ob dies so ist, weiß ich nicht mit Sicherheit zu sagen, jedoch ent- spricht es sehr meiner persönlichen Wahrnehmung in meinem Fach, der Neurologie. Die daraus resultierenden Herausforderungen, denen man sich als lebenslang ler- nender Mediziner bzw. Medi- zinerin stellen muss, lassen sich 1:1 in die Lehre übertra- gen. Doch wie lehrt man Er- kenntnisse, die wahrschein- lich schon beim Staatsexamen unserer ärztlichen Absolventinnen und Absolventen nicht mehr gültig sein werden? In den letzten Jahren entwickelte sich ein starker Trend zu einer kompe- tenzbasierten Ausbildung, was in der anstehenden Änderung der ärztlichen Approbationsordnung dann auch ver- bindlich verankert werden wird. Kom- petenzen werden hierbei, vereinfacht gesagt, zusammengesetzt aus der Ver- knüpfung von theoretischem Grundla- genwissen und Anwendungspraxis. Die Herausforderung besteht darin, den Lernenden zu vermitteln, dass sie be- reits im Studium ständig neue Erkennt- nisgewinne in ihr Lerngebäude einbau- en müssen. Hier eignet sich ein kon- struktivistischer Ansatz in der Lehre, der die Lernenden in eine aktive Rolle bringt – vor allem durch die Schaffung klinischer Kontexte und Fragestellun- gen. Fachexperten für Basiswissen? Aber auch die Rolle der Dozierenden muss in diesem Kontext neu definiert werden. In der Erstellung des Curricu- lums frage ich mich häufig, ob es wirk- lich sinnvoll und notwendig ist, einen hochspezialisierten habilitierten Fach- experten in der Vermittlung von grund- legenden basalen Fertigkeiten einzuset- zen. Kann dieser Experte oder diese Expertin überhaupt noch die Probleme einer Anfängerin bzw. eines Anfängers beim Erwerb praktischer Fähigkeiten nachvollziehen und sinnvolle Lösungs- ansätze vermitteln? Beim Konzeptionieren von Veran- staltungen arbeite ich gerne mit der Bloomschen Taxonomie. Angesichts der Lernziele im Bereich der Low Order Skills und der High Order Skills er- scheint der Einsatz von Expertinnen und Experten insbesondere bei der Ver- mittlung von High Order Skills sinnvoll. Aber sind Berufsanfänger und -anfän- gerinnen nicht auch Expertinnen und Experten im Bereich der Low Order Skills, da sie diese Kompetenzen erst vor Kurzem gemeistert haben und sich der Schwierigkeiten noch genau be- wusst sind? Ein Lehrender, der kürzlich erworbene Kompetenzen vermittelt, ist wesentlich geduldiger, verständiger und kann sich besser in die Herausforde- rungen der Studierenden einfühlen. Auch die Motivation der Dozierenden sollte nicht außer Acht gelassen werden, da diese den Erfolg guter Lehre wesent- lich bestimmt. Ein junger Do- zierender, der gerade selbst er- worbenes Wissen weitergeben kann, erlebt dadurch ein hohes Maß an Selbstwirksamkeit, was eine Hauptkomponente von Motivation dar- stellt. Außerdem vertieft der Lehrende automatisch sein eigenes Wissen, da er bzw. sie durch die Durchführung einer Lehrveranstaltung in der Bloomschen Taxonomie aufsteigt. Die Lehr-Lern-Kaskade Daraus ergibt sich eine Lehr-Lern-Kas- kade, in der Wissen von den Expertin- nen und Experten am oberen Ende der Expertise nach unten fließt und dabei jeden, der lehrt, eine Wissensstufe auf- steigen lässt. In der Medizin würde dies bedeuten: Die Chefärztin führt eine Lehrvisite durch, diskutiert hier fachli- che Details mit dem Oberarzt und un- terrichtet dabei die Stationsärztinnen und -ärzte. Diese unterrichten im Alltag die Studierenden im Praktischen Jahr sowie die Jungassistentinnen und -as- sistenten. Durch die Beantwortung von Fragen werden sie selbst zu Expertinnen | C A R O L I N E K L I N G N E R | Nachwuchswissenschaftler schultern einen großen Teil der Lehre an Hochschulen. Studierende können da- von profitieren: Sie orientieren sich häufig an den jungen Dozierenden eine „Wissensstufe“ über ihnen. DerenWissen ist selbst frisch erworben, wodurch sie häufig geduldiger und motivierter für die Lehre sind als etablierte Experten. A U T O R I N Dr. med. Caroline Klingner , Hans-Ber- ger-Klinik für Neuro- logie am Universi- tätsklinikum Jena, wurde als Lehrkoor- dinatorin im Medizin- studium mit dem Lehrpreis 2019 aus- gezeichnet. »Die Herausforderung besteht darin, den Lernenden zu vermitteln, dass sie ständig neue Erkenntnisse einbauen müssen.«

RkJQdWJsaXNoZXIy MjMxMzg=