Forschung & Lehre 9/2019

zu einer heiklen Angelegenheit gewor- den. Versuche, die früher Standard wa- ren, werden heute als zu problematisch bzw. zu gefährlich eingestuft. Wer will als Lehrer die Verantwortung überneh- men, wenn sich ein Schüler möglicher- weise durch einen Versuch bedroht fühlt und z.B. befürchtet, zu viele „che- mische Dämpfe” eingeatmet zu haben? Das führt nicht gerade dazu, dass der praktische Anteil im Chemie-Unterricht steigt. In der Universität werden die Stu- dierenden an die Probleme herange- führt. Das ist auch der Grund, warum das Chemie-Studium so teuer ist. Es braucht sehr viel Betreuungsarbeit, z.B. Assistentinnen und Assistenten, die die möglichen Fehler und Gefahren sehr genau kennen. Sie begleiten die ersten Gehversuche der Studierenden und achten darauf, dass nichts schief geht. Diesen praktischen Teil der Ausbildung zu übernehmen gehört auch zu den Aufgaben einer Universität. F&L: In den Mentoring-Ge- sprächen können die Studierenden die- se und andere Probleme ansprechen. Wie funktioniert das in Ihrem Fachbe- reich? Christian Mayer: Im Mentoring-Ge- spräch arbeiten wir die Probleme ge- meinsam heraus, indem ich nachfrage und an den Punkt komme, an dem die negativen Erfahrungen geäußert wer- den. Auf Anhieb erfahre ich solche Dinge selten. Es braucht zwei bis drei Gesprächsrunden, bevor Studierende diese Aspekte ansprechen. Das generelle Problem des Mento- rings besteht darin, dass die Teilnahme und Effizienz der Gespräche bei denje- nigen Studierenden am größten ist, die die wenigsten Probleme haben. Die Be- troffenen mit den wirklichen Problemen tauchen bei diesen Treffen dummerwei- se eher nicht auf. Genau an diese Gruppe, die wir eigentlich erreichen wollen, kommen wir damit am schwers- ten heran. F&L: Wie würden Sie Aufwand und Er- trag des Mentorings einschätzen? Christian Mayer: Bei allem, was wir bisher gemacht haben, sowohl beim ersten Teil des Mentorings als auch nach der „Reform“ (unter neuen Vor- zeichen) hat es sich immer gelohnt. Es ist ja nicht so, dass wir Professorinnen und Professoren kein Interesse daran hätten, dass die Studierenden ihr Studi- um erfolgreich abschließen. Im Gegen- teil. Vom Mentoring profitieren daher immer beide Seiten: die Studierenden werden beraten, der Mentor oder die Mentorin erfährt etwas über die aktuel- len Probleme des Studiums. F&L: Studieren bedeutet auch einen Rollenwechsel vom Schüler zum Stu- denten. Wird dieser durch Mentoring begünstigt oder eher hinausgezögert? Christian Mayer: Das ist natürlich ein kritischer Punkt. Durch die Bachelor- Master-Abschlüsse besteht eine gene- relle Tendenz der Verschulung in den Universitäten. Es könnte sein, dass das Mentoring dies noch verstärkt. Aller- dings ist das meines Erachtens nicht unbedingt negativ. Warum soll sich die Universität in diesem Punkt, in der per- sönlichen Betreuung eines Studieren- den, nicht der Schule annähern? Da se- he ich keine Nachteile, solange noch genug Raum bleibt für Persönlichkeits- entwicklung – was einschließt, dass ich den Studierenden ernst und nicht zu sehr an die Hand nehme. Wenn aber der Studierende vor bestimmten Pro- blemen steht, die er möglicherweise ei- genständig nicht lösen kann, sollte man helfen. An dieser Stelle könnte die Uni- versität von der Schule lernen. F&L: In welcher Phase des Studiums ist Ihrer Meinung nach der Betreuungs- und Beratungsbedarf von Studierenden am größten? Christian Mayer: Der größte Bera- tungsbedarf und die größte Beratungs- effizienz bestehen in den ersten Semes- tern. Da werden Weichen gestellt und Probleme kreiert, die dann später mit etwas Erfahrung nicht mehr auftreten. In dieser Phase lässt sich das meiste noch bewegen. Daher lautet unser Cre- do, ganz früh anzufangen. Bei dem zweiten Beratungszweig, den wir anbieten, wenn also Studieren- de Prüfungen nicht schaffen und wir mit ihnen daran arbeiten, dass sie nicht beim letzten Versuch durchfallen, ist der Beratungsbedarf auch in späteren Semestern vorhanden. Diese Probleme treten aber eher punktuell auf. F&L: Als Mentor versuchen Sie, durch intensive und persönliche Gespräche näher an die Studierenden heranzu- kommen. Wie überwindet man als Leh- rende bzw. Lehrender in der Vorlesung die Distanz und erreicht, dass die fach- liche Botschaft bei den Studierenden ankommt? Christian Mayer: Es kommt darauf an, persönlichen Eindruck zu hinterlassen. Das ist grundsätzlich ein wichtiges Merkmal guter Lehre. Das setzt m.E. nicht unbedingt eine Vorbildfunktion voraus. Auch der sehr lässige, etwas ab- gehobene oder gar exzentrische Cha- rakter kann die Studierenden so beein- drucken, dass das, was er vorträgt, hän- gen bleibt. F&L: Funktioniert eine Vorlesung auch über Youtube? Christian Mayer: Da bin ich ziem- lich altmodisch. Für mich ist der persönliche Eindruck sehr wichtig. Vi- deos oder andere Formen der digitalen Lehre ersetzen nicht das persönliche Erleben einer Vorlesung. Wenn man das ausklammert, verliert man ein we- sentliches Element von dem, was Lehre ausmacht. Es gibt zwar großartige You- tube-Videos von Lehrenden, die auch einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Aber ich glaube, es ist sehr viel schwie- riger, so etwas richtig und ansprechend hinzubekommen. Man muss schon ei- nen sehr guten Draht haben zu dem, was man lehrt, um auf einem Video den gleichen Eindruck zu hinterlassen wie im echten Leben. Grundsätzlich funktioniert es nicht ohne einen klaren Wissens- und Verständnisvorsprung. Auf Seiten der Studierenden höre ich immer wieder, es sei unglaublich anstrengend, Vorlesungen auf Videos anzuschauen. Die vielfältigen Ablen- kungen zu Hause machen es nicht leicht, man muss bewusst die Konzen- tration auf etwas richten, und es besteht die Gefahr, dass man aus dieser Konzentration herausgenommen wird. Wenn man in einer Vorlesung sitzt, ist das anders, dann passiert es eben um einen herum. Es erfordert wesentlich mehr Willensanstrengung, bewusst diese Konzentration beizubehalten, wenn das Umfeld eines Hörsaals fehlt. Die Fragen stellte Vera Müller. 9|19 Forschung & Lehre L E H R E 811 »Ein wichtiges Merkmal guter Lehre ist, einen persönlichen Ein- druck zu hinterlassen.«

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