Forschung & Lehre 9/2019
den Anfängen von so etwas wie „Wirt- schafts- und Regierungswissenschaften“ (zur Beherrschung des Handels und der Gesellschaften). Zentral wurden die Rechtswissenschaften als vermittelnde bzw. anwaltschaftliche Wissenschaften des Handelns und Vereinbarens; und notwendig eine Sprachkompetenz, mit der sehr verschiedene Partner ihren Handel und ihre Vereinbarungen ver- stehen konnten – auch wenn die Wis- senschaften durch ihre Reduktion aufs Vermitteln und die stets von den eige- nen Auftraggebern verlangte Parteilich- keit einen noch fast unbemerkten, ge- sellschaftlichen Autoritätsverlust hin- nehmen mussten. War das Sprechen lange Zeit nur durch Mehrsprachigkeit möglich, änderte sich dies Mitte des 20. Jahrhunderts, als nach zwei Weltkriegen Weltorganisationen gegrün- det sowie Englisch zur welt- weiten Verständigungsspra- che wurde. Die Wissenschaf- ten begaben sich mit den Weltsprachen auf einen neu- en Weg: auf den Weg in die Praxis. Die Frage des Nutzens der Medizin für die Gesundheit der Massenbevölke- rung in den Städten, die Frage des Nut- zens der Physik für die Mechanisierung von Landwirtschaft und Handwerk und später für die Industrialisierung von Produktion und Verkehr sowie die Frage des Nutzens auch von „Wirt- schafts- und Regierungswissenschaften“ für Nationalstaaten rückten in den Mit- telpunkt des gesellschaftlichen Interes- ses. Die neue anwendungsorientierte Sprache war der Lösung gesundheitli- cher, wirtschaftlicher und sozialer Fra- gen gewidmet. Durch die Bindung an diese Fragen und die gesellschaftlichen Akteure, die diese Fragen stellten, aber auch durch das Lösungsversprechen und den Lösungswillen der Wissen- schaften selbst scheint dieser Schritt in die Praxis noch viel stärker als der erste, der Schritt zur Weltsprache, das Ende der bisherigen starken Autonomie der Wissenschaften, zu markieren. Was Mitte des 19. Jahrhunderts insbesondere in den Ingenieurwissenschaften begann, wurde ab Mitte des 20. Jahrhunderts insbesondere in Deutschland durch die Gründung von Fachhochschulen fort- gesetzt. Eine neue, auf die Anwendung der Wissenschaften bezogene Sprache war entstanden. Die Wissenschaften hatten fast alle Institutionen und Orga- nisationen der Praxis mittlerweile er- reicht – und wurden von diesen bei Be- darf erreicht und in Anspruch genom- men. Heutige Sprachen Trotz einer mittlerweile breiten Akade- misierung der Gesellschaft konnten aber nicht alle Schichten Zugang zur Akademia, zur Universität bzw. Hoch- schule, selbst bekommen. Mit dem Auf- kommen der Massenmedien und der Möglichkeit, Wissen via Radio und Fernsehen medial zu vermitteln, konn- ten ab den 1930er und 1950er Jahren noch mehr Menschen erreicht werden. Diese Teilhabe all jener Menschen, de- nen sowohl die allgemeine Hochschul- zugangsvoraussetzung als auch spezifi- sche Studierfähigkeiten fehlten, war dies das Versprechen, aus einer allge- meinverständlichen wie auch neue und andere Zielgruppen als das Bildungs- bürgertum ansprechenden Sprache Nut- zen zu ziehen. Die Erfindung des Inter- nets und der Smartphones ab den 1990er und 2000er Jahren forcierte die- se Entwicklung noch. Es galt nunmehr, wissenschaftliches Wissen massenmedi- al so aufzubereiten und darzustellen, dass es möglichst viele Zuschauer – insgesamt also Laien – erreicht und verstehen. An die erste Phase einer – medial unterstützten – Sprache für die Allge- meinheit schloss ab den 1990er Jahren das Öffnungsprojekt der Hochschulen für Studierende, deren Eltern keinen Hochschulabschluss verfügten sowie das Inklusionsprojekt der „leichten“ Sprache an, mit dem nunmehr auch diejenigen erreicht werden sollten, die aus verschiedenen Gründen keine Hochschulzugangsberechtigung hatten, sondern denen auch zuvor als grundle- gend erachtete Studiervoraussetzungen und -fähigkeiten fehlten. Sprachkompetenzen in den Wissenschaften Alle diese Sprachen gleichzeitig zu sprechen – die Sprache des forschenden Denkens, der Lehre, der Vermittlung, der Anwendung, der Allgemeinheit und verschiedener Zielgruppen – ist eine besondere Herausforderung. Sich nur auf eine Sprache zu beschränken, scheint zu wenig. Über welche Sprach- kompetenzen sollten Wissenschaftle- rinnen und Wissenschaftler mindestens verfügen? Günstig scheint es, wenn Wissen- schaftlerinnen und Wissenschaftler heu- te wenigstens dreisprachig sind und gleichzeitig eine klassische, eine neuere und die heutige Sprache sprechen, um Autonomie und Autorität des Forschens und Lehrens zu verknüpfen mit einer gesellschafts- und akteursbezogenen dritten wissenschaftlichen Mission und dem – möglicherweise vierten neuestem – Anliegen an die Wissenschaften, auch für die Allgemeinheit als auch jedweden wissensinteressierten Menschen da zu sein. Es kommt also auf den Prof.-Ing. an, der auf Kenntnissen in der theoreti- schen Mathematik beharrt, und nicht nur Wirtschaftsun- ternehmen zu Wachstum und Ge- winn verhilft, son- dern engagiert auch technische Lösun- gen zur Verbesse- rung der Lebenslage der Menschen mit körperlicher Behinderung sucht. Ge- sucht wird die Rechtswissenschaftlerin, die auch die historischen Grundlagen des Rechts vermittelt und den öffentli- chen Einrichtungen zu mehr gesell- schaftlicher Anerkennung verhilft, weil sie von höchsten Nutzen für die Allge- meinheit sind. Wichtig ist der Prof.-Dr.- med., der seine Studierenden am Mi- kroskop fordert, aber nicht nur immer bessere Methoden für immer weniger Menschen in den eigentlich freigemein- nützigen Krankenhäusern bereitstellt, sondern sich auch über die bessere Ver- teilung von Gesundheitsdienstleistungen auf der Welt Gedanken macht. Und von hoher gesellschaftlicher Bedeutung ist die Soziologie-Professorin, die darauf insistiert, dass ihre Studierenden die Klassiker der Soziologie wirklich durch- arbeiten, aber nicht nur, um ihre jewei- ligen Standpunkte zu schärfen, sondern damit es möglich wird, dass alle auch sich selbst weiterzuentwickeln in der Lage sind. 9|19 Forschung & Lehre S P R A C H E 827 »Günstig scheint es, wenn die Wissenschaft- lerinnen und Wissenschaftler wenigstens drei- sprachig sind.«
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