Forschung & Lehre 9/2019

834 R E C H T Forschung & Lehre 9|19 Entscheidungen L E S E R S E RV I C E Die Entscheidungen der Rubrik „Recht“ können in vollem Wortlaut bestellt werden bei: Forschung & Lehre, Rheinallee 18-20, 53173 Bonn, Fax: 0228/9026680, E-Mail: infoservice@forschung- und-lehre.de Allerdings hätten die Beschwerdeführer spätestens in der letzten Tatsachenin- stanz den Einwand geltend machen müssen, dass es sehr wohl solche Maßstäbe gebe, nicht erst gegenüber dem Bundesverfassungsgericht. Von sich aus müsse indes ein Verwaltungsge- richt in einem solchen Fall nicht weiter ermitteln. Der Rechtsstaat erlaube es ihm vielmehr, sich auf die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Verwaltungsent- scheidung zu beschränken. Denn die Verfassung verlange nicht von der Rechtsprechung, fachwissenschaftliche Erkenntnislücken selbst zu schließen. Das begründen die Verfassungsrichter damit – nicht ohne eine gewisse Chuzpe –, dass die Exekutive nun einmal „not- gedrungen“ solche Entscheidungen tref- fen müsse, die Rechtsprechung aber von niemandem dazu gezwungen werden könne. Das klingt nach Schwarzer-Pe- ter-Spiel. In „außerrechtlichen tatsäch- lichen Fragen“ bestehe zugunsten der Gerichtsbarkeit keine Vermutung der höheren Expertise gegenüber der einer Verwaltung. Zwar könne ein Verwal- tungsgericht eine selbstständige Ein- schätzung vornehmen. Allerdings sei diese angesichts der objektiv unzurei- chenden Erkenntnislage mit derselben Unsicherheit behaftet wie die behördli- che Entscheidung. Ja, ich weiß es doch auch nicht… D e jure sprechen Richter Recht. In Verfahren, in denen es maßgeblich auf nichtjuristische Fachfragen an- kommt, sprechen de facto die Sachver- ständigen und die Wissenschaftler Recht. Was tun, wenn die Fachleute es auch nicht wissen? Mit dieser beinahe staatsphilosophischen Frage hatte sich jüngst das Bundesverfassungs- gericht zu beschäftigen. Anlass war ein grün- ökologischer Binnen- streit: Windkraft versus Tierschutz. Einer ge- planten Windenergie- anlage wurde die im- missionsschutzrechtli- che Genehmigung ver- wehrt, weil sich das Tö- tungsrisiko für wild le- bende Tiere geschützter Arten, konkret für den Rotmilan, durch die ge- plante Anlage signifi- kant erhöhe. Nach über- einstimmender Auffas- sung der Genehmi- gungsbehörde und der verwaltungsgerichtlichen Vorinstanzen gebe es keine allgemeinen fachwissen- schaftlichen Maßstäbe und standardi- sierte Erfassungsmethoden zur Beurtei- lung des von Windkraftanlagen ausge- henden Risikos für Rotmilane. Das be- zweifeln die Anlagebetreiber in spe und beklagen, dass im Falle des Fehlens von fachwissenschaftlichen Erkenntnissen die Justiz als Instanz der Rechtskontrol- le für Verwaltungsentscheidungen fak- tisch ausfalle. Den Vorwurf, der Rechtstaat versa- ge, hat das Bundesverfassungsgericht im Ergebnis auf ihm sitzenlassen, aber rechtsdogmatische Einhegungen und Kautelen installiert. Zunächst wird das Haupteinfallstor geschlossen: Die Exis- tenz anerkannter wissenschaftlicher Maßstäbe und Methoden sei eine von der Fachwissenschaft zu beantwortende Tatsachenfrage, die dem gerichtlichen Sachverständigenbeweis zugänglich sei. Diese Selbstbescheidung der Recht- sprechung dürfe nun aber nicht als vor- sätzliche „Verschiebung der Entschei- dungszuständigkeit“ vom Gericht auf die Behörde missverstanden werden. Das Verfassungsgericht nennt sie des- halb eine „von Dauer und Umfang des jeweiligen Erkenntnisstandes abhängi- ge“ faktische Grenzverschiebung ver- waltungsgerichtlicher Kontrolle. Vor diesem Hintergrund hat das Verfas- sungsgericht keine Bedenken, dass die Jurisdiktion seiner Kontrollprüfung die Einschätzung der Behörde zugrunde le- ge, soweit sie rechtsfehlerfrei und plau- sibel sei. Der damit vollzogene Drahtseilakt zwischen Exekutive und Jurisdiktion bliebe unvollkommen oh- ne der ersten Gewalt im Staat, der Legislative, ein paar Vermeidungsauflagen ins Stammbuch zu schrei- ben. Der Gesetzgeber dür- fe in grundrechtsrelevan- ten Bereichen Entschei- dungen nicht einem fach- wissenschaftlichen Er- kenntnisvakuum überant- worten, das weder die Ver- waltung noch die Gerichte ausfüllen könnten. Sie müsse dann für eine unter- gesetzliche Maßstabsbil- dung, z.B. durch Einsatz fachkundiger Gremien zur Feststellung einheitlicher Maßstäbe und Methoden, Sorge tragen. Fazit: Fehlt die wissen- schaftliche Expertise, kommen gleich alle drei Gewalten im Staat ins Schwit- zen. Ihr Fehlen löst das Bundesverfas- sungsgericht eher zugunsten der Exeku- tive auf, was rechtspolitisch eher kri- tisch einzuschätzen ist. Beschluss des BVerfG vom 23.10.2018, Az: 1 BvR 2523 / 13 (NJW 3/2019 S. 141 ff.) Michael Hartmer Der Rotmilan vor dem Bundesverfassungsgericht Foto: mauritius-images

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