Forschung & Lehre 9/2019

9|19 Forschung & Lehre E N I G M A 883 Enigma Licht, Karussell und Kreisel Von Elmar Schenkel* Sie lebte in einer Zeit, in der sie sich und ihre Talente als Frau gegen eine männliche Dominanz in der Wissenschaft durchset- zen musste. Es war etwas in ihr, das herauswollte: der Genius der Mathematik. Ihre Vorfahren waren bekannte Wissenschaftler, der Urgroß- vater Astronom, der Großvater der sogenannte „Kartograph Russlands“. Ihr Kinderzimmer hatte man wegen fehlender Tape- ten mit Blättern aus einer Mathematikvorlesung zur Integral- und Differentialrechnung beklebt: eine wunderbare Initiation in das Geheimnis der Zahlen für das Kind! Dieses rätselte und spekulierte ohne Ende über die mysteriösen Zeichen. Ihre Schwester schrieb derweil Erzählungen, die sie dem gro- ßen Autor Dostojewski zuschickte. Ihm gefielen diese ebenso wie ihm die Autorin zusagte, er ließ sich oft blicken im Haus. Die Schwester lehnte schließlich seinen Heiratsantrag ab, was die Jüngere nicht verstand – auch sie übrigens literarisch sehr begabt. (Später sollte sie neben ihrer wissenschaftlichen Arbeit Romane und Theaterstücke schreiben.) Die ältere Schwester heiratete einen Franzosen und nahm am Kampf der Pariser Kommune 1871 teil, als die Stadt von den Preußen be- lagert wurde. Die Jüngere eilte zu Hilfe und versorgte Verwunde- te, doch letztlich musste man fliehen. Karl Marx in London half den Flüchtlingen. Ihre politische Einstellung wurde dabei radi- kaler, auch im Hinblick auf das zaristische Regime in Russland. Die Jüngere hatte ihre mathematischen Interessen weiter ver- tieft, zum Erstaunen ihrer Umgebung. Um aber Mathematik stu- dieren zu können, musste sie ins Ausland – und das ging nur mit einer Scheinehe. Im Gegensatz zu Russland hatten Frauen dort etwas bessere Chancen, wenngleich die dümmliche Haltung der patriarchalischen Gesellschaft noch universell war. Ihre mathe- matischen Fähigkeiten überzeugten aber so manchen Sturkopf; ein berühmter Berliner Mathematiker (sein Grab liegt inzwi- schen im ehemaligen Todesstreifen der DDR) gab ihr Privatun- terricht, weil er von ihren Fähigkeiten überzeugt war. Die Schein- ehe ging sie ein mit einem russischen Paläontologen, der sich un- ter anderem mit der Abstammung der Pferde beschäftigte, aber auch dem Nihilismus zuneigte. Mit ihm besuchte sie Darwin und andere große Geister, so auch die englische Schriftstellerin George Eliot, die von ihrer Emanzipiertheit angetan war. Die Ehe, die nach einigen Jahren über das Scheinhafte hinausging, zerbrach, das gemeinsame Kind wurde zeitweise in die Obhut ei- ner Freundin gegeben (die erste promovierte Chemikerin der Welt, entfernte Verwandte des russischen Dichters Lermontow). Nachdem sich ihr Mann in Spekulationsgeschäfte verwickelt und sich schließlich umgebracht hatte, begann sie allein durch Europa zu reisen und eine mathematische Karriere anzu- streben. Sie entwickelte ihre mathematischen Theore- me, schrieb drei bemerkenswerte Aufsätze, von denen jeder ihr einen Doktortitel hätte einbringen können. Gegen alle bürokratisch-patriarchalen Widerstände konnte sie in Deutschland promovieren, dann allerdings mit summa cum laude. Als sie eine Dozentur in Schweden er- hielt, berichteten fast alle Zeitungen dort davon. Das griff der misogyne Schriftsteller August Strindberg in einer Polemik auf: eine Frau als Mathematikprofessorin sei ein Monster, außer- dem gebe es in Schweden genug und weitaus bessere männli- che Mathematiker, die ihr weit überlegen seien. Sie stimmte ihm zu, was das Monströse von weiblichen Mathematikern anging, aber „nur gegen eines protestiere ich, dass nämlich in Schweden eine große Anzahl Mathematiker leben soll, die mir weit überle- gen seien“, wie sie in einem Brief schreibt. Sehr jung starb sie an einer Lungenentzündung, die sie sich auf einer Rückreise von Südfrankreich, wo ihr Geliebter wohnte, nach Schweden zugezogen hatte. Eine kanadische Literaturno- belpreisträgerin hat dieser Heimreise eine Erzählung gewidmet. Ihre Forschungen sind für Nicht-Mathematiker (wie mich) schwer zu verstehen. Beschränken wir uns also darauf zu sagen, dass sie sich unter anderem mathematisch/physikalisch mit der Lichtbrechung in Kristallen und mit den Rotationen von starren Körpern um feste Punkte beschäftigt hat: Licht, Karussell und Kreisel. Ein solcher spezieller Kreisel ist nach ihr benannt wor- den. Die Russische Akademie der Wissenschaften verleiht einen Mathematikpreis in ihrem Namen, den aber auch andere Preis- geber nutzen. Ob er es verdient hat oder nicht, auch ein Asteroid trägt ihren Namen. Und ein Mondkrater wollte nicht nachste- hen. In der Geschichte der kanadischen Autorin heißt es an einer Stelle: „Die Mathematik war ein Geschenk der Natur, wie die Nordlichter.“ Lösung: Sophia Kowalewskaja (1850-1891) * Elmar Schenkel ist em. Professor für Engl. Literatur an der Univer- sität Leipzig. Er ist freier Mitarbeiter bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. 2016 erschien sein Buch „Keplers Dämon. Begegnungen zwischen Literatur,Traum undWissenschaft“ (S. Fischer Verlag).

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