Forschung & Lehre: Frau Professorin Rehfuess, was ist unter dem Begriff Global Health zu verstehen? Eva Rehfuess: Die Corona-Pandemie hat eindrücklich gezeigt, dass Gesundheit und gesundheitliche Krisen im globalen Kontext betrachtet werden müssen. Schon einige Jahre vor diesem Ereignis, im Jahr 2003, hatte das Vorgängervirus SARS-CoV-1 in einzelnen Ländern wirtschaftlichen Schaden verursacht, was der globalen Gesundheit unter dem Stichwort „Health Security“ auch mehr politische Aufmerksamkeit verlieh. Aber Global Health geht weit über Epidemien oder Pandemien hinaus. Ihr Ziel ist die Verbesserung von Gesundheit und die Schaffung gesundheitlicher Chancengleichheit für alle Menschen weltweit. Global Health hat grenzübergreifende Gesundheitsprobleme im Blick und verfolgt Lösungsansätze auf Bevölkerungsebene – Prävention, Gesundheitsförderung und Gesundheitsschutz sowie Stärkung von Gesundheitssystemen – ebenso wie die medizinische Behandlung von Patientinnen und Patienten. Global Health vereint die Stärken der biomedizinischen Tradition, z.B. der Infektiologie, mit denen der Public-Health-Tradition, unter anderem der Hygiene und Epidemiologie. Sie fördert interdisziplinäre Zusammenarbeit weit über die Gesundheitswissenschaften hinaus. Im Zuge der Dekolonialisierung der Forschung bedarf Global Health der Kooperation von Forscherinnen und Forschern aller Länder auf Augenhöhe. F&L: Inwiefern spielt die Dekolonialisierung bei der Global-Health-Forschung eine Rolle? Eva Rehfuess: Dies ist ein klarer Gegenentwurf zu einer Vielzahl von Global-Health-Forschungsprojekten, bei denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des globalen Südens zwar einen Großteil der Arbeit leisten, bei der Einwerbung und Leitung von Forschungsprojekten und bei der Veröffentlichung von Forschungsergebnissen aber nur eine untergeordnete Rolle spielen. Auch Forschungsprioritäten werden derzeit noch stark durch Institutionen, Geldgeber und Forscherinnen und Forscher des globalen Nordens vorgegeben, manchmal vorbei an tatsächlichen Forschungsbedarfen und -interessen. Radikalere Ansätze einer Dekolonialisierung der Forschung stellen deshalb auch die Global-HealthStrukturen infrage und fordern einen grundlegenden Neuaufbau der globalen Gesundheitsforschung. F&L: Was sind weitere große GlobalHealth-Herausforderungen? Eva Rehfuess: Global Health umfasst eine enorme Bandbreite an Themen. Dazu gehören klassische Infektionskrankheiten wie Polio oder Tuberkulose, die zwar auch in Ländern des globalen Südens zurückgehen, aber eine weltweite Herausforderung bleiben. Ebenso befasst sich Global Health mit Themen wie Gewalt und Unfällen, aber auch mit nicht-übertragbaren Erkrankungen wie Diabetes, Krebs und psychischen Erkrankungen, die in vielen Ländern auf dem Vormarsch sind. Im besten Fall entstehen einige dieser Krankheiten gar nicht, was die Bedeutung von Risikofaktoren unterstreicht – ob Umweltrisiken wie Luftverschmutzung und mangelnde Versorgung mit sauberem Trinkwasser oder „Lifestyle“- Risiken wie Rauchen und Alkoholkonsum. Hinzu kommen übergreifende Herausforderungen im Gesundheitsbereich wie antimikrobielle Resistenzen, die Sicherstellung einer allgemeinen Gesundheitsversorgung („Universal Health Coverage“) und die Migration von Gesundheitsfachkräften, ebenso gesellschaftliche Trends wie die Urbanisierung und die Entwicklung von Mega-Cities sowie die Digitalisierung mit ihren vielfältigen Chancen und Risiken. F&L: Wie können angesichts dieser vielfältigen Herausforderungen überhaupt Prioritäten gesetzt werden? Eva Rehfuess: Eine politische Grundlage bieten unter anderem die Strategie der Bundesregierung zur Globalen Gesundheit aus dem Jahr 2020, die EUStrategie zur Globalen Gesundheit aus dem Jahr 2022 und die Nachhaltigkeitsstrategie der Vereinten Nationen für den Zeitraum 2015 bis 2030. Als entscheidende wissenschaftliche Grundlage dient vor allem die Berechnung der Krankheitslast, die aufzeigt, wie viele gesunde Lebensjahre jedes Jahr durch bestimmte Krankheiten und Risikofaktoren verloren gehen, und zwar global, für Regionen, für Länder und sogar für einzelne Städte. Allerdings kann die Berechnung der Krankheitslast nur das gut abbilden, was leicht messbar ist, weshalb viele grundlegende Ursachen von Krankheiten („Root Causes“) weitgehend übersehen werden. Forschung zum Verständnis und vor allem zur Bekämpfung dieser grundlegenden Ursachen benötigt deutlich mehr Aufmerksamkeit. Die Zusammenhänge zwischen Armut, Bildung und Gesundheit sind bekannt und belegt. Zu den grundlegenden Ursachen für Krankheiten und deren veränderter Verteilung gehören aber auch der Klimawandel und die Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Dabei liegt das Augenmerk nicht länger nur auf der Gesundheit des Menschen, stattdessen stehen zunehmend die wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen Mensch, Tier und Planet – als „One Health“ oder „Planetary Health“ 9|23 Forschung & Lehre GLOBAL HEALTH 657 | IM GESPRÄCH | Die globalen Herausforderungen an die Gesundheitssysteme wachsen weltweit. Dazu gehören sowohl Krisensituationen wie die Corona-Pandemie als auch der Einfluss von gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen. Ein Interview. Eva Rehfuess ist Professorin an der Medizinischen Fakultät der LMU München und hat den Lehrstuhl für Public Health und Versorgungsforschung inne. »Global Health hat grenzübergreifende Gesundheitsprobleme im Blick und verfolgt Lösungsansätze auf Bevölkerungsebene.« Foto: Foto: Norman Pretschner.
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