Forschung & Lehre 09/2023

bezeichnet – im Fokus. Eine weitere grundlegende Ursache sind die sogenannten kommerziellen Determinanten von Gesundheit, die jedoch zumindest in Deutschland kaum wahrgenommen und noch weniger beforscht werden. Sie beschreiben die Systeme, Praktiken und Wege, über die kommerzielle Akteure, vor allem multinationale Firmen, die Gesundheit und die gesundheitliche Chancengleichheit in vielen Lebensbereichen beeinflussen. F&L: Wie sollten Forscherinnen und Forscher komplexe Global-Health-Zusammenhänge analysieren und Handlungsmöglichkeiten entwickeln? Eva Rehfuess: Global Health begreift Gesundheit und Krankheit als Zusammenspiel von Determinanten auf individueller Ebene (z.B. Gene, Verhalten), auf lokaler und nationaler Ebene (z.B. Umweltbedingungen, Gesundheitssystem) und auf internationaler Ebene (z.B. Güterströme, Migration). Daraus ergeben sich vielfältige Forschungsfragen – eine interdisziplinäre und grenzübergreifende Perspektive kann hier entscheidend zu einem besseren Verständnis von Gesundheitsproblemen und zur Identifizierung von erfolgversprechenden Lösungsansätzen beitragen. F&L: Können Sie ein Beispiel nennen? Eva Rehfuess: Ein Beispiel ist der teils rasant steigende Anteil der Bevölkerung mit Übergewicht und Fettleibigkeit in fast allen Ländern der Welt. Biomedizinische Forschung in diesem Kontext widmet sich z.B. den physiologischen Prozessen, die zu HerzKreislauferkrankungen und anderen nachgelagerten gesundheitlichen Problemen führen, oder entwickelt und testet neue pharmakologische oder chirurgische Ansätze zur Bekämpfung von Fettleibigkeit. Public-Health-Forschung untersucht mit epidemiologischen Methoden die Entwicklung von Übergewicht im Zeitverlauf oder nutzt verhaltenswissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse zur Unterstützung von gesunden Ernährungsmustern und zur Förderung von Bewegung. F&L: Welche Rolle spielt der internationale Blick auf Global Health? Eva Rehfuess: Global-Health-Forschung entsteht erst dann, wenn grenzübergreifend und integrierend vorgegangen wird. So befassen wir uns in einem laufenden Forschungsprojekt im Westkap, Südafrika, gemeinsam mit südafrikanischen Kolleginnen und Kollegen mit dem sogenannten „Double Burden of Malnutrition“, also dem gleichzeitigen Auftreten von Unter-, Mangel-, Fehl- und Überernährung, oft innerhalb der gleichen sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen. Dabei geht es darum, wie lokale, nationale und globale Ernährungssysteme und -umgebungen dazu führen, dass Bewohnerinnen und Bewohner der Townships viel zu wenig Obst und Gemüse zu sich nehmen und übermäßig Fastfood konsumieren. Gleichzeitig erforschen wir, mit welchen Maßnahmen diese Ernährungssysteme verändert werden können, ob durch vereinfachten Zugang zu gesunden Lebensmitteln, durch multimediale Informationskampagnen, durch Lebensmittelkennzeichnung oder durch freiwillige Selbstverpflichtung multinationaler Akteure wie Nestlé und McDonalds. Bei der Entwicklung umfassender Lösungsansätze sind neben vielen weiteren Disziplinen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Geographie, aus den Agrarwissenschaften, aus der Stadtplanung und aus den Politikwissenschaften gefragt. Zusätzlich wichtig ist die Implementierungsforschung, die Fragen rund um die Nutzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen in Politik und Praxis und zur Skalierung von Maßnahmen untersucht. F&L: Und wie setzen Sie dies in ihrer eigenen Global-Health-Forschung um? Eva Rehfuess: Im Vergleich zu Ländern wie Großbritannien, den USA und den Niederlanden ist die GlobalHealth-Forschung und -Lehre in Deutschland wenig entwickelt. Allerdings wurden in den letzten Jahren diverse Initiativen zu ihrer Stärkung lanciert, unter anderem der Aufbau von afrikanisch-deutschen Forschungsnetzwerken für Gesundheitsinnovationen in Subsahara-Afrika und der Global Health Hub zur sektorenübergreifenden Vernetzung unterschiedlicher Global-Health-Akteurinnen und -Akteure. Bemerkenswert ist die German Alliance for Global Health Research (GLOHRA), die die Zusammenarbeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aller Disziplinen vorantreibt, innovative und sektorenübergreifende Forschungsprojekte fördert und im Rahmen der Global Health Academy den wissenschaftlichen Nachwuchs unterstützt. GLOHRA ist innerhalb von nur drei Jahren auf mehr als 1000 Mitglieder angewachsen, was das große Interesse der akademischen Gemeinschaft am Thema widerspiegelt. F&L: Warum sollten sich wissenschaftliche Einrichtungen in einem Hochtechnologieland wie Deutschland mit Global Health befassen? Eva Rehfuess: Erstens ergeben sich durch den Global-Health-Ansatz neue Chancen und Impulse für Innovationen. Zweitens wächst mit dem politischen Engagement der Bundesregierung in Global Health – unter anderem ist Deutschland der größte Geldgeber bei der Weltgesundheitsorganisation und richtet den jährlichen World Health Summit aus – der Bedarf an wissenschaftlicher Politikberatung. Drittens unterstützt Global Health den Auftrag der Universitäten, junge Menschen zu kritischen, verantwortungsbewussten und selbstständigen „Global Citizens“ auszubilden und macht den Standort für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler internationaler und attraktiver. Ein starkes deutsches Global-HealthWissenschaftssystem kann somit einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung drängender globaler Herausforderungen leisten, sei es in der Prävention und Behandlung psychischer Erkrankungen, im Umgang mit den gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels oder bei der Vorbereitung auf neue Viren. Die Fragen stellte Friederike Invernizzi. 658 GLOBAL HEALTH Forschung & Lehre 9|23 »Im Vergleich zu Ländern wie Großbritannien, den USA und den Niederlanden ist die Global-HealthForschung und -Lehre in Deutschland wenig entwickelt.«

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