sättigung im Blut während der Anästhesie messen. F&L: Wie kann die digitalisierte Medizin hier Unterstützung leisten? Können Sie bitte ein paar Beispiele nennen? Walter Karlen: Die Digitalisierung fängt bei kostengünstigen, einfach zu unterhaltenden Medizingeräten an und geht bis hin zu hochkomplexen Algorithmen für die medizinische Entscheidungsfindung. Das zeigt auch eine Stärke der digitalisierten Medizin auf: Die technischen Ansprüche an die Hardware sind nicht so groß, was sich in den Kosten niederschlägt. Für telemedizinische Konsultationen brauchen Sie nur ein Smartphone und eine Internetverbindung, und schon haben Sie einen Zugang zu medizinischem Fachpersonal erstellt. Ein weiteres Beispiel aus unserem eigenen Forschungsbereich ist die intelligente Intensivstation für Spitäler mit knappen Ressourcen. In Partnerschaft mit der Universität Oxford und weiteren Universitäten erforschen wir am Hospital for Tropical Diseases von Ho Chi Minh City, wie mit einfachen, aber vernetzten Sensoren und Geräten eine Datenlandschaft aufgebaut werden kann, die Patientinnen und Patienten besser überwacht und mittels KI-Empfehlungen lebensbedrohliche Situationen verhindert sowie das chronisch unterbesetzte Behandlungsteam entlastet. F&L: Inwieweit sind Infrastrukturen und technische Ausrüstung, die für die digitalisierte Medizin erforderlich sind, im globalen Süden vorhanden? Wie ist Deutschland im Vergleich aufgestellt? Walter Karlen: An geeigneter Infrastruktur fehlt es überall, insbesondere auch an Personal, das diese unterhalten kann. Der Vorteil in Ländern mit niedrigen Einkommen ist, dass dort viel mehr Freiheit besteht, etwas Neues aufzubauen. In Ländern wie Deutschland stehen etablierte Prozesse sowie existierende teure Infrastruktur viel mehr im Weg, was die Umstellung verlangsamt. Es gibt aber auch positive Zeichen. Deutschland hat vor kurzem die Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) eingeführt. Diese Apps können von Ärzten verschrieben werden und die Kosten werden von den Krankenkassen übernommen. Der Einsatz von KI über DiGAs ist also schon möglich. F&L: Inwieweit können digitale Gesundheitsleistungen an die jeweiligen lokalen, kulturellen oder auch ethischen Rahmenbedingungen vor Ort angepasst werden? Walter Karlen: Der Einbezug der lokalen Gegebenheiten für die Entwicklung und Einführung neuer Technologien und Prozesse ist essenziell, sowohl in Deutschland als auch anderswo. Gerade im Gesundheitswesen ist es schwierig, etablierte Prozesse zu durchbrechen. Dies gelingt nur, wenn alle Beteiligten in die Transformation eingebunden werden und diese idealerweise auch gestalten können. Kulturelle und ethische Aspekte müssen natürlich auch berücksichtigt werden. Stellen Sie sich vor, Sie haben ein neuartiges mobiles Ultraschallgerät entwickelt, das ohne Expertenwissen angewendet werden und mittels KI das Geschlecht eines Fötus und mögliche Komplikationen zuverlässig bestimmen kann. Es wäre ein wichtiges Tool, um die Zahl der Lebendgeburten zu erhöhen und die Müttersterblichkeit zu verringern. Aber wäre es ethisch vertretbar, die KI ohne zusätzliche Regularien in Ländern, in denen kulturelle Normen männliche Nachkommen deutlich bevorzugen, einzuführen? F&L: In Deutschland sind u.a. die Weiterentwicklung individuell zugeschnittener Therapien oder intelligenter Assistenzsysteme bei Operationen wichtige Forschungsthemen. Inwieweit können Fortschritte bei diesen Spezialisierungen auch für ärmere Länder von Nutzen sein? Walter Karlen: Ich bin der Meinung, dass die erwähnten Fortschritte für diese Länder nicht zuoberst auf der Prioritätenliste stehen. Einerseits bauen diese auf bereits etablierten, teuren Technologien auf und sind Treiber für die Spitzenmedizin. Damit sind sie nicht den lokalen Gegebenheiten von Ländern mit niedrigen Einkommen angepasst. Anderseits kann es gut sein, dass sich die neuen Forschungserkenntnisse auch auf andere Gebiete der Medizin anwenden lassen, die stärker auf die Bedürfnisse des SDG 3 ausgerichtet sind. Noch wahrscheinlicher ist jedoch, dass Technologien, die gezielt im und für den globalen Süden entwickelt werden, zurück nach Deutschland finden werden. Wir nennen dies „reverse innovation“. Die kostengünstigen und erfrischend einfachen, aber effizienten Gesundheitstechnologien haben auch in Deutschland, gerade im Hinblick auf explodierende Gesundheitskosten, Relevanz. Ein bekanntes Beispiel aus dem Gesundheitssektor sind die in Indien und China entwickelten mobilen Ultraschall- und EKG-Geräte, die dank tiefer Preise und kompakter Bauform danach auch auf großes Interesse bei westlichen Ärzten gestoßen sind. Auch wenn erfolgreiche Beispiele eher selten sind, ist es extrem wichtig, dass KI-basierte Technologien im lokalen Marktumfeld entwickelt, getestet und produziert werden. Nur so können langfristig Know-how und Kapazitäten aufgebaut werden, die nötig sind, um diese Systeme zu betreiben, zu unterhalten und weiterzuentwickeln. F&L: Wo sehen Sie Risiken beim Einsatz von KI im Hinblick auf Global Health? Walter Karlen: Fairness ist ein Thema, das angegangen werden muss: Wer liefert die Daten für die Erstellung der Modelle, wie wird entschädigt, wer bekommt Zugang zu den neuen Technologien bzw. wie verhindert man eine Zweiklassen-Medizin? Ein weiteres wichtiges Thema ist der Bias in den Trainingsdatensätzen sowie in den daraus resultierenden Modellen: Werden KI-Modelle nicht für den lokalen Kontext angepasst und mit repräsentativen Daten trainiert und validiert, kann es gut sein, dass bestimmte Patientengruppen systematisch falsch behandelt oder Krankheiten nicht rechtzeitig diagnostiziert werden. Die Fragen stellte Ina Lohaus. 9|23 Forschung & Lehre GLOBAL HEALTH 665 »Der Einbezug der lokalen Gegebenheiten für die Entwicklung und Einführung neuer Technologien und Prozesse ist essenziell.« Führungs-, Karriere- und Persönlichkeitscoaching in Wissenschaft, Forschung undLehre www.team-roemer.de/res Anzeige THOMAS RÖMER
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