Forschung & Lehre 09/2023

9|23 Forschung & Lehre WISSENSCHAFTSGESCHICHTE 683 Forst, Rahel Jaeggi und Hartmut Rosa in ganz unterschiedliche Richtungen weiterentwickelt. In den USA zählen Seyla Benhabib, Nancy Fraser und Amy Allen zu ihren wichtigsten Vertreterinnen. Obwohl gewisse Schulstreitigkeiten dabei nicht ausbleiben und ihre Berechtigung darin haben, die „Waffen der Kritik“ zu schärfen, sollte die Kritische Theorie darüber aber nicht vergessen, dass diese Auseinandersetzungen letztlich der praktischen Anwendung ihres Analyseinstrumentariums dienen. Wenn sie weiterhin Horkheimers Anspruch gerecht werden will, muss sie sich aktiv gegen all jene Entwicklungen und Ideologien wenden, die Beherrschung implizieren. Missstände im Mensch-NaturVerhältnis Ansatzpunkte dafür gäbe es viele. Eine besonders akute Problematik ist ohne Zweifel der ausbeuterische Umgang moderner Gesellschaften mit der natürlichen Umwelt. Horkheimer selbst hatte schon früh die problematischen Züge der Naturbeherrschung identifiziert und kritisiert. Sowohl in der „Dialektik der Aufklärung“ als auch in seiner Arbeit „Zur Kritik der instrumentellen Vernunft“ finden sich wegweisende Ressourcen, um Missstände im MenschNatur-Verhältnis zu untersuchen. Die Unvernunft oder Hybris, die Natur vollständig kalkulierbar, kontrollierbar und letztlich kommodifizierbar machen zu wollen, wird dort in sich widersprüchlich, wo Menschen sich in Zwangslagen verstricken, wo, frankfurterisch gesprochen, Naturbeherrschung in Naturherrschaft umschlägt. Man denke dabei an schwerwiegende Krisen im Mensch-Natur-Verhältnis wie den anthropogenen Klimawandel, der die überforderten Gesellschaften der Moderne schon heute zu Reaktionen zwingt. Dem „Einfluss der gesellschaftlichen Entwicklung auf die Struktur der Theorie“, von dem es in Horkheimers Gründungsaufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“ heißt, dass er zum „Lehrbestand“ der Kritischen Theorie gehört, muss in dieser Hinsicht von Neuem Geltung verschafft werden. Die Kritische Theorie ist eine engagierte, auf Emanzipation gepolte Wissenschaft, die sich immer wider herrschende Formen von Unvernunft zur Wehr setzt. Diese Stoßrichtung wurde ihr von Horkheimer, ihrem Begründer, eingeschrieben und charakterisiert sie seither. Entsprechend muss, wo sich die Phänomene verschieben, die als widervernünftig zu bewerten sind, auch die Theorie selbst sich wandeln, um diese richtig aufspießen zu können. Ein äußerst dringlicher Anlass für einen derartigen Wandel stellen die globalen Herausforderungen dar, die im Hier und Jetzt, verstärkt aber noch in immer näher rückender Zukunft, aus unserem Umgang mit der natürlichen Umwelt resultieren. Ganz im Sinne Max Horkheimers gilt es daher aktuell, die Kritische Theorie der Gesellschaft zu einer Theorie der Weltgesellschaft und ihrer Umwelt zu erweitern. Beerdigung vonTheodor W. Adorno am 13. August 1969: Prof. Ludwig Friedeburg, Prof. Max Horkheimer, Oberbürgermeister Willy Brundert und Prof. Jürgen Habermas, von links. Quelle: picture alliance / Associated Press / Kurt Stumpf

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