857 11|23 Forschung & Lehre B I LDUNG man das Gymnasium so weit wie möglich von sozialpädagogischen Aufgaben entlastet und es auf seine (auch in den meisten Schulgesetzen der Bundesländer formulierte) Aufgabe reformiert: auf das Lernen im propädeutischen Kontext. Wertbezogene Kenntnis der kulturellen Standards, problemlösendes Lernen und die Schulung abstrahierenden und ordnenden Denkens sind dabei die drei Säulen. Speziell am Gymnasium sollte es um die Qualifikationen von lernstarken und verantwortungsbereiten Schülerinnen und Schülern gehen. Es muss künftig Bildungswege geben, die bereits frühzeitig eine Ausrichtung auf Forschungstätigkeiten anvisieren. Gradmesser für diese propädeutische Schulart sind Lerngeschwindigkeit und Abstraktionsgrad der Anforderungen. Ideal der Allgemeinbildung darf nicht das Gymnasium sein, sondern eine Basisschulart, in der in angemessener Zeit all das zu lernen ist, was den Einzelnen zur verantwortungsvollen Bewältigung des Alltags in Berufen befähigt, die nicht Wissenschaftlichkeit als Kennmerkmal haben. Die Ziele aller anderen Bildungsgänge beinhalten nicht nur diese Alltagsfähigkeit, sondern zusätzliche Qualifikationen – am Gymnasium die Studierfähigkeit. Je früher diese Zusatzqualifikationen angeboten werden, umso zielgenauer ist jene Gruppe aus der nachwachsenden Generation zu fördern, die diesen Weg gehen will und gehen kann. Wenn indessen das Gymnasium weiterhin Abschied nimmt von seiner Zielausrichtung Studierfähigkeit, ist es im Ensemble der Schularten gar nicht mehr begründet. Es überfordert derzeit einen Teil seiner Klientel durch kognitive Orientierung, und es unterfordert durch Egalisierung den anderen. Der berühmte Aufschrei eines Mädchens namens Naina K., sie habe in der Schule alles gelernt, nur nicht, wie man eine Steuererklärung ausfülle (https://www.stern.de/ familie/naina-zu-ihrem-bildungs-tweet- --was-wir-in-der-schule-lernen--ist-nichtbloedsinn--3485322.html), ist Ausdruck eines schulpolitisch befeuerten Selbstmissverständnisses. Das Mädchen war auf der falschen Schulart. Das Ausfüllen von Steuererklärungen wäre durchaus Gegenstand der neuen Basisschule, nicht aber des Gymnasiums. Dort lernt eine Klientel, die so schnell lernen und so formal denken kann, dass es sich die Herausforderungen einer Steuererklärung künftig selbst aneignen kann. Die anlasslos implementierte Kompetenzorientierung der deutschen Bildungspläne hat die Tendenz unterstützt, weder Wissen noch abstraktes Denken von Gymnasiasten zu verlangen und stattdessen dazu gedrängt, fragmentierte Teilfähigkeiten für eine Praxis einüben zu lassen, die längst eine andere geworden ist, wenn die Schulabgänger in den Beruf gehen. Die geschulte Modellierungsfähigkeit in der Mathematik ist auf die forschungsrelevante höhere Mathematik überhaupt nicht zu übertragen und hält den auf zunehmende Abstraktion zielenden Mathematikunterricht mit der umständlichen Konstruktion angeblich lebensnaher, bei genauerer Prüfung jedoch lebensfern konstruierter Praxisbeispiele auf. Ein solcher Unterricht findet mathematische Exzellenz in der Schülerschaft nur durch Zufall. Der Umstand, dass Universitäten in den betreffenden MINT-Fächern Stützkurse einrichten müssen, die den Schulstoff nachholen, macht das Scheitern der Kompetenzorientierung öffentlich sinnfällig. Bereits vor 20 Jahren wurde genau vor einer solchen Entwicklung gewarnt: folgenlos. Dies gilt analog auch für die Schulung von Sprachkompetenz: Weiterführend im akademischen Bereich sind Einsichten in die Struktur und Strukturierung von Sprache (bedeutsam etwa für sprachgelenkte Maschinen), nicht aber das Einüben der sprachfremd gedachten Lesekompetenz anlässlich von Fahrplänen und Gebrauchsanweisungen. Statt des ausgegebenen Bildungsziels Teilhabe, also Anpassung an den Ist-Zustand, müssen ausdrücklich Wissenschaftsorientierung (Innovation) und Foto: mauritius images / Stocktrek »Wissenschaftsorientierung und verantwortungsvolle Kritikfähigkeit müssen Ziele des gymnasialen Bildungsgangs sein.«
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