Forschung & Lehre 11/2023

Forschung & Lehre 11|23 858 B I LDUNG verantwortungsvolle Kritikfähigkeit (Wertorientierung) Ziele des gymnasialen Bildungsgangs sein: Nicht Anpassung an gegenwärtige Trends, sondern die Fähigkeit und Bereitschaft, Innovationen verantwortungsvoll denken und durchsetzen zu können. Teilhabe orientiert sich am Status quo, Wissenschaftsorientierung dagegen an der Grundidee von Forschung, selbst Neues entdecken zu wollen – eine Grundidee, die auch die Intention von Literatur, bildender Kunst und Musik ist, die an Schulen allenthalben marginalisiert wurden. Letzteres rächte sich sehr schnell, ist aber nur langsam wieder zu kompensieren. Unterricht am Gymnasium muss alles zu Wissende und Könnende so lehren, dass man lernt, wie es erzeugt wird und wie man es künftig selbst erzeugen kann: konstruktives und innovatives Denken. Die Universität: Ort der Forschung und Lehre Die Universität darf kein Ort des Lernens sein, sondern sie muss ein Ort des Forschens und des Lehrens werden. Das Lernen muss außerhalb der Universität erfolgen. Seminare abzuhalten, in denen die Semesterlektüre von den meisten Teilnehmern nicht gelesen wurde, wird keine Innovationen hervorbringen. Spitzenforscher zur Kontrolle von Anwesenheitslisten oder zum Korrigieren von Klausuren einzusetzen, ist Verschwendung gesellschaftlicher Ressourcen. Credit Points zu addieren, statt Eignungen und Qualifikationen zu beurteilen, war ein ins Nichts führender Abweg, der die Erbringung von Teilleistungen mit wissenschaftlicher Qualifikation verwechselt. Die Universität muss ihre Klientel von dem Ansinnen schützen, die Psychometrie könne eher Auskunft über Forschungsfähigkeit geben als wissenschaftsbasierte Gutachten. Die Qualität von Wissenschaft lässt sich nicht quantifizieren und messen, und daher sollte die Universität auch nicht die Illusion verbreiten, in ihren Lehrveranstaltungen würden mit exakten Methoden lernzielbezogene Teilleistungen testiert, deren Zusammensetzen wissenschaftliche Exzellenz garantiere. Ließen sich Albert Einsteins Forschungen mit Note Eins, und Max Plancks mit einer Zwei plus beziffern? Kein Nobelpreis, keine große Forschung lässt sich in einem Notensystem ranken – Wissenschaft funktioniert so nicht. Also sollte die Universität es in der Lehrpraxis auch nicht vortäuschen. Die Universitäten müssen sich von ihrer Ausrichtung auf Masse statt Klasse und vom Habitus einer sich um das Leben der Absolventen kümmernden Institution verabschieden. Seminare mit über 15 Studierenden können den Qualifikationsansprüchen rasend schnell expandierender und viel Lesebereitschaft verlangender Wissenschaft nicht genügen. Wenn einige Universitäten heute dazu übergehen, für ihre Erstsemester lustige Einführungswochen zu veranstalten (wie beim Übergang vom Kindergarten zur Grundschule), senden sie fatale Signale. Die Universität ist kein Ort des betreuten Lernens und fürsorglicher Lebensbegleitung. Sie bietet kostenlos (also von der arbeitenden Bevölkerung finanziert) eine Ausbildung in einem Lebensalter an, in dem Gleichaltrige als MTAs, Mechatroniker oder Installateure bereits Verantwortung für Leib und Leben ihrer Mitbürger tragen. Da darf man von Studierenden verlangen, dass sie wissen, wie sie zu studieren haben. Fachspezifisch ist die Reduktion von Praxisanteilen zu überprüfen. Ein Studium dient der (zeitintensiven) Einarbeitung in Forschungsstand und Theorie und nicht dem Anlernen in einer zeitverbrauchenden Praxis. Praxis hinkt der Forschung immer hinterher – je mehr also in einem Studium Praxisanteile zu finden sind, desto weniger Zeit bleibt für das innovierende Studium der Theorie. Studium der Theorie heißt: kritische und problembezogene Aneignung des bisherigen Forschungsstands und damit die Fähigkeit, Forschungslücken zu entdecken. Praxisanteile verschmieren die Forschungslücken durch scheinbare Üblichkeiten in der Praxis. Ein Studium soll nicht die Praxis studieren, sondern Wissen und Können so vorbereiten, dass es später die Praxis erneuern kann. Die Transferleistung Theorie-Praxis muss vom Absolventen geleistet werden, nicht aber vorauseilend von der Universität unter Bindung zeitlicher, personaler und finanzieller Ressourcen betreut werden. Hochschullehrer und Hochschullehrerinnen sind keine Lebensbegleiter, nicht einmal Lernbegleiter: Sie sind Fachleute für ihre Wissenschaft. Ihre Lehrkompetenz gründet in ihrer Fachkompetenz, rührt nicht aus der Anwendung auf Praxis, pseudomethodischen Lernspielereien und farbenfrohen Animationen. Lehre an der Universität hat nur die Aufgabe, das Selbststudium zu ermöglichen (und nicht zu betreuen oder gar dazu zu motivieren). Lehre an der Universität heißt, Forschung auszulösen („studieren“), heißt paradox ausgedrückt, dasjenige zu lehren, was es noch nicht gibt – bereits ab dem ersten Semester. Die eingangs zitierte Studie legt nahe, dass sie einen globalen Trend analysiert, dem sich keine der bisher führenden Wissenschaftsnationen entziehen könne. Aber das muss nicht so sein. Man muss nur nicht das weiter machen, womit auch andere Länder scheitern, und man muss schneller als sie auf die Fehlentwicklung reagieren. Das übrigens wäre ein Zeichen von wissenschaftsorientierter Politik. Forschungsbedarf Die in der Studie nahegelegte Auflassung, die Welt sei ausgeforscht, es gäbe nichts mehr zu erfinden, ist Ausdruck jener Krise, die die Studie nur beschreiben wollte: Die Menge der Probleme für den Menschen bleibt immer gleich, mögen die Arten ihrer Bewältigung auch wechseln. Geforscht werden muss nach Medikamenten gegen Krebs und Demenz, nach sozialverträglichem Umgang mit Seuchen, nach neuen Möglichkeiten ressourcenschonender Mobilität, Energiegewinnung und Nahrungsmittelsicherheit, nach Modalitäten einer neuen, nunmehr weltgerechten Wirtschaftsordnung, nach unverbrauchten Formen internationalen Zusammenlebens, nach globalen Gestaltungsformen rationaler und daher gleichberechtigter Diskurse, und der Artikel könnte durch weitere Aufzählung noch sehr lang werden. Die Welt könnte am Anfang des Wissenschaftszeitalters stehen, nicht am Ende. »Lehre an der Universität heißt, Forschung auszulösen, paradox ausgedrückt, dasjenige zu lehren, was es noch nicht gibt.« Führungs-, Karriere und Persönlichkeitscoaching Thomas Römer www.team-roemer.de/res in Wissenschaft, Forschung undLehre Führungscoaching Karriereplanung Thomas Römer www.team-roemer.de/res Anzeige

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