Forschung & Lehre 11/2023

Forschung & Lehre 11|23 860 SPRACHE Richtig schreiben – eine Nebensächlichkeit? Die Entwicklung der Orthografie nach der Rechtschreibreform Die Auseinandersetzungen rings um die Einführung der Rechtschreibreform am 1. August 1998 sind ein Paradebeispiel dafür, in welchem Maße sich sprachliche Themen bildungs- und kulturpolitisch aufladen können. Sogar ein Volksentscheid wurde in Schleswig-Holstein durchgeführt, und auch das Bundesverfassungsgericht war mit der Reform befasst. Dabei war der Anlass der Reform durchaus nachvollziehbar: Seit der letzten größeren staatlichen Reform im Jahr 1902 waren an vielen Stellen des orthografischen Systems Ungereimtheiten entstanden, die den Schreiberwerb erschwerten. Manche Sprachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler hatten sich sogar für einen ganz großen Wurf ausgesprochen, etwa die Kleinschreibung der Substantive oder die konsequente Ausrichtung der Schreibung an der Lautung der Wörter. Dies spielte bei den Reformbeschlüssen von 1996 aber keine Rolle mehr. Es sollte jedoch auch eine Kuriosität beendet werden: Die staatlichen Stellen hatten im Jahr 1955 in der Hoffnung, dass eine für den gesamten deutschen Sprachraum gültige Reform unmittelbar bevorstehe, die jeweils aktuelle Auflage des Rechtschreibdudens übergangsweise als für die Rechtschreibung maßgeblich festgelegt. Die zunehmende Festigung der deutschen Teilung machte diese Hoffnung jedoch zunichte – der sogenannte „Stillhaltebeschluss“ galt schließlich mehr als vier Jahrzehnte lang und verschafftedem Rechtschreib-Duden eine monopolartige Stellung. Die Rechtschreibung als den einzigen Teilbereich der deutschen Sprache, der einer Normierung unterliegt, zurückzuholen in die Verantwortung der staatlichen Stellen der deutschsprachigen Länder war deshalb eine wichtige Triebkraft der Reform. Erst nachdem die Reformbeschlüsse getroffen und veröffentlicht waren, kam sowohl die öffentliche als auch die fachliche Diskussion dazu in Fahrt. Neben der Kritik an grundlegenden Reformentscheidungen und an Inkonsistenzen, die sich in verschiedenen Teilbereichen des reformierten Regelwerks ergaben, wurde auch die Notwendigkeit der Reform überhaupt angezweifelt. Kritik wurde zudem daran geübt, dass etwa das Ziel der Fehlervermeidung beim Schreiben überbetont sei gegenüber der Unterstützung des Lesens. In der öffentlichen Debatte wurden häufig die Vorschläge für eine forcierte Integration von Fremdwörtern als Beispiel für die Lebensferne der Reform ins Feld geführt – Spagetti (ohne h) und Schikoree haben sich tatsächlich nicht durchgesetzt, auch wenn in vielen anderen Fällen (etwa Foto) die integrierte Variante heute unumstritten ist. Die Reform hat tatsächlich viele Vereinfachungen und auch Wahlmöglichkeiten hervorgebracht, widerspruchsfrei konnte aber auch sie nicht sein. Eine Reform des Schriftsystems allein kann nicht die Zweifelsfälle und unklaren Erscheinungen des Sprachsystems beseitigen, wie die Germanistin Beatrice Primus dazu festgestellt hat. Die Kritik an der Reform führte zu Nachbesserungen, die 2004 und 2006 in Kraft traten und an vielen Stellen die Rigidität des ursprünglichen Reformansatzes zurücknahmen. Besonders im Bereich der Getrenntund Zusammenschreibung bestehen seitdem weitreichende Wahlmöglichkeiten. Mit der Einsetzung des Rats für deutsche Rechtschreibung und seiner Geschäftsstelle am Leibniz-Institut für deutsche Sprache in Mannheim im Jahr 2004 wurde zudem ein Gremium geschaffen, dessen Mitglieder aus den sieben offiziell deutschsprachigen Ländern und Regionen die Rechtschreibentwicklung kontinuierlich verfolgen. Dabei sollen sie in ihren turnusmäßigen Berichten aber keine Änderungen vorschlagen, die sich nicht aus der allgemeinen Schreibentwicklung ableiten lassen. Ein wichtiger Bereich dieser Empfehlungen bleibt weiterhin die Fremdwortschreibung, die sich heute weitaus vielfältiger darstellt, als noch zu Beginn der Reform absehbar war. Andere Bereiche wie etwa die veränderte Verwendungsweise des Buch- | HENNING LOBIN | Die heutigen Rechtschreibleistungen der Schülerinnen und Schüler können nicht ohne Bezug auf die Rechtschreibreform aus dem Jahr 1998 in den Blick genommen werden . Doch auch das digital geprägte Schreiben hat Einfluss auf die Orthografiekenntnisse . Henning Lobinist Direktor des LeibnizInstituts für Deutsche Sprache und Professor für Germanistische Linguistik an der Universität Mannheim sowie Mitglied im Rat für deutsche Rechtschreibung. AUTOR »Neben Kritik an grundlegenden Reformentscheidungen wurde auch die Notwendigkeit der Reform überhaupt angezweifelt.«

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