Forschung & Lehre 11/2023

861 11|23 Forschung & Lehre SPRACHE stabens ß können heute als weitgehend konsolidiert betrachtet werden. Rechtschreibleistungen Die Bewertung der Reform wird allerdings erschwert durch die sich parallel zu ihr vollzogene Verschlechterung der Rechtschreibleistungen der Schülerinnen und Schüler. Nach den Ergebnissen des IQB-Bildungstrends von 2021 zu den orthografischen Kompetenzen im Grundschulbereich haben lediglich 44,4 Prozent der Schülerinnen und Schüler den Regelstandard im Bereich Orthografie erreicht (gegenüber 53,9 Prozent noch 2016), und von den übrigen konnten 30,4 Prozent noch nicht einmal den Mindeststandard erzielen (2016: 22,1 Prozent). Die Befunde werden durch den soeben veröffentlichten Bildungstrend für die Sekundarstufe I bestätigt. Allerdings gehen die Ergebnisse einher mit vergleichbaren Verschlechterungen im Bereich von Lesen, Zuhören und auch Mathematik. Ebenso hat sich auf der Ebene von Abitur-Aufsätzen in den vergangenen Jahrzehnten die Fehlerfrequenz erhöht, wie etwa von Kristian Berg und Jonas Romstadt am Beispiel der Kommasetzung ermittelt worden ist. Was aus derartigen Daten hervorgeht, ist die Erkenntnis, dass die erweiterten Wahlmöglichkeiten in einigen Bereichen der Orthografie zugleich auch die Verunsicherung erhöht haben in den Bereichen, in denen eine solche Wahlmöglichkeit überhaupt nicht besteht. Digitales Schreiben Die Reform der Rechtschreibung ist in eine Zeit gefallen, in der sich die Bedingungen des Schreibens massiv geändert haben. Schreiben ist heute digital geprägt, geschieht oft am Smartphone, unterstützt durch automatische Wortvervollständigungs- und -vorschlagssysteme, ist spontan und höchst vergänglich in sozialen Medien. Ein derartiges Schreiben hat es noch in den 1990er-Jahren nicht gegeben, und es wirkt sich auch auf die Rechtschreibung aus. Zusammengesetzte Substantive wie Abendveranstaltung sind auf dem Handy schwer zu schreiben, wenn sie das System nicht kennt – also wird Abend Veranstaltung geschrieben. Kommas und Punkte unterbrechen den maschinell unterstützten Schreibfluss, also wird auf sie verzichtet. Auch wenn Schreibende normalerweise zwischen den verschiedenen formalen Registern ihrer Texte unterscheiden können, so wird die beständige Praxis des informellen und unterstützten Schreibens doch zwangsläufig ihre Spuren hinterlassen. Zugleich scheint mit den Möglichkeiten der Autokorrektur Rettung in Sicht zu sein. Auch die Verfahren der Rechtschreibkorrektur werden immer besser, so dass damit gerechnet werden kann, dass schon bald niemand mehr einen orthografisch fehlerhaften Text abgeben muss, ohne es zu wollen. Wird die Orthografie also bald nur noch eine Oberflächlichkeit sein, eine Nebensächlichkeit ähnlich der Wahl der Schriftart? Vermutlich nicht, und das liegt an der Funktion, die das orthografische System für das Lesen und Schreiben hat. Es erleichtert dieses nämlich, erlaubt es, die Funktion eines Wortes buchstäblich zu sehen, anstatt diese indirekt über Lautfolgen zu erschließen. Im Deutschen kann ein und dieselbe Lautfolge als fällt oder Feldgeschrieben werden, und sofort erkennen wir, dass es sich bei der ersten Zeichenfolge um eine Form des Verbs fallen handeln muss, bei der zweiten um ein Substantiv, das den Genitiv mit d- bildet (obwohl wir eint sprechen). Und wir können dieses sogar erschließen, wenn wir die beiden Wörter noch nicht einmal kennen würden. Diese Eigenschaft des Schreibsystems erhöht die Leseeffizienz, und ein Text wird sogar komplexer, wenn orthografische Sicherheit beim Schreibenden besteht. Eine weitere Funktion der Orthografie ist die Entlastung, die sich aus der Erwartung gleicher Schreibungen für gleiche Wörter ergibt und uns nach und nach eine schnelle, ganzheitliche Erkennung ganzer Wortfolgen zu entwickeln erlaubt. Schriftsprache ist ein eigenständiger Systemzustand von Sprache, und die Orthografie ermöglicht es uns, Sprache im Medium der Schrift effizient zu handhaben. Anpassungen des orthografischen Systems des Deutschen werden aufgrund der allgemeinen Sprach- und Schreibentwicklung weiterhin notwendig sein, die Zeit großer Reformen ist jedoch vorbei. Der Rat für deutsche Rechtschreibung hat sich dabei als ein Gremium bewährt, in dem derartige Entwicklungen gesichtet und bewertet werden, um dann im erforderlichen Maße Regelanpassungen vorzunehmen. Foto: mauritius images / Alamy Stock »Die erweiterten Wahlmöglichkeiten in einigen Bereichen der Orthografie haben zugleich die Verunsicherung erhöht.«

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