Forschung & Lehre 11|23 862 GESCHICHTE Zum 375 . Jubiläum des Westfälischen Friedens Lernen aus der Geschichte? Der Friedensschluss vom 24. Oktober 1648, der den Dreißigjährigen Krieg beendete und dessen 375. Jubiläum in diesem Jahr in Münster und Osnabrück mit einem bunten Festprogramm gefeiert wird, steht in jüngerer Zeit wieder im Fokus der ,Großen Politik‘. So thematisierte schon Frank-Walter Steinmeier während seiner Amtszeit als Außenminister wiederholt öffentlich die Frage, ob es nicht möglich sei, einen ,Westfälischen‘ Frieden für den Nahen und Mittleren Osten zu kreieren. Dass sich die G7-Außenministerinnen und -minister angesichts des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine im November 2022 im Rathaus von Münster gezielt vor historischer Friedenskulisse in Szene setzten, verdeutlicht ebenfalls die Ausstrahlungskraft des Friedensschlusses von 1648 als Symbol grundsätzlicher Friedensfähigkeit und -bereitschaft. Und als Bundeskanzler Olaf Scholz im Juni 2023 anlässlich des Treffens der Europäischen Politischen Gemeinschaft in Moldau die Traditionen europäischer Friedensordnungen beschwor, da verwies er ausdrücklich auf den Westfälischen Frieden. Auch die unlängst unter Beteiligung internationaler Politprominenz ausgerichtete „Westfälische Friedenskonferenz“ in Münster knüpfte bewusst an diese Traditionsbildung an. Die Bewertung des Friedensschlusses von 1648 hat einen bemerkenswerten Wandel durchlaufen. Im 18. Jahrhundert als grundlegende Friedensordnung hochgeschätzt, im 19. Jahrhundert unter machtstaatlichen Prämissen weitgehend verachtet und von den Nationalsozialisten als angeblicher Ausdruck außenpolitischer Ohnmacht regelrecht verdammt, ist der Westfälische Frieden seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem eindeutig positiv konnotierten europäischen Erinnerungsort avanciert. Das Denkmodell „Westphalian system“ Parallel dazu ist es seitens der Politikwissenschaft und des Völkerrechts in den vergangenen Jahrzehnten gelungen, das Denkmodell eines „Westphalian system“ breitenwirksam zu etablieren. Mit dem Frieden von Münster und Osnabrück sei eine internationale Ordnung aus der Taufe gehoben worden, die auf den Prinzipien Gleichrangigkeit, Souveränität und Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer beruhe. Kurioserweise sahen die Bestimmungen des Friedens von 1648 jedoch eher das genaue Gegenteil vor: die Kontinuität hierarchischer Strukturen, die fortgesetzte Einbindung der zahlreichen deutschen Reichsstände in ein Lehnssystem mit dem Kaiser als Oberhaupt sowie die ausdrückliche Verpflichtung für alle Vertragschließenden, bei Verstößen gegen die Bestimmungen des Friedensschlusses zu intervenieren. Dass das sogenannte „Westphalian system“ von Historikerinnen und Historikern längst als Mythos entlarvt wurde, ändert aber nichts daran, dass dieses Konstrukt in der heutigen Wahrnehmung der 1648 konstituierten Friedensordnung nicht nur präsent, sondern sogar vorherrschend ist. Dem Westfälischen Frieden droht es daher, mehr und mehr zu einer Leerformel degradiert zu werden, die mit nahezu beliebigen Inhalten gefüllt wird, welche mit den eigentlichen Friedensbestimmungen von 1648 kaum noch etwas zu tun haben. Dieser Entwicklung in Wissenschaft und universitärer Lehre entgegenzusteuern, fällt angesichts der Dominanz des „Westphalian system“ im öffentlichen Diskurs nicht leicht. Die große Aktualität des Themas erfordert jedoch klare Positionierungen – und zwar keineswegs nur angesichts der Erschütterung der internationalen Staatengemeinschaft durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. So wird schon seit längerer Zeit darüber debattiert, ob man angesichts des wachsenden Einflusses Asiens und vor allem Chinas inzwischen nicht tref- | MICHAEL ROHRSCHNEIDER | Vor 375 Jahren wurde der Westfälische Frieden geschlossen . Seitdem wird er oft als Symbol für die Gleichrangigkeit und Souveränität von Staaten herangezogen und dient als erstrebenswertes Ziel zur Beilegung aktueller kriegerischer Auseinandersetzungen . Das ist aus wissenschaftshistorischer Perspektive nur inTeilen vertretbar. Professor Michael Rohrschneider lehrt Geschichte der Frühen Neuzeit und Rheinische Landesgeschichte an der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn und leitet das dortige Zentrum für Historische Friedensforschung. AUTOR Foto: Volker Lannert / Universität Bonn »Die Bewertung des Friedensschlusses von 1648 hat einen bemerkenswerten Wandel durchlaufen.«
RkJQdWJsaXNoZXIy MjMxMzg=