Forschung & Lehre 11/2023

868 Forschung & Lehre 11|23 BÜCHER Lesenund lesen lassen Diagnostizieren Einer richtigen Diagnose liegt eine komplexe Entscheidung von Ärztinnen und Ärzten zugrunde. Nach welchen Kriterien sie zu treffen ist, auf welchen Wegen sie erzielt werden kann und wie sie zu erlernen ist, darum geht es im neuen Buch von Professor Donner-Banzhoff. Ein Interview. Ist ihr Buch nur für Ärztinnen und Ärzte interessant? Einerseits ja, da ich beim Schreiben immer die praktisch Tätigen vor Augen gehabt habe. Andererseits nein, da ich die nicht-medizinischen Wissenschaften daraufhin abklopfen wollte, was sie zur ärztlichen Diagnose zu sagen haben. Biostatistik, Informatik, Ethnologie, Psychologie, Soziologie, Philosophie und andere sind für die Medizin immer interessant. Das Buch will deshalb auch eine Einladung zum Dialog mit anderen Wissenschaften sein, um das so reiche und umfassende Thema in seiner Tiefe zu verstehen. Weshalb haben Sie sich grundlegend mit dem Diagnostizieren beschäftigt? Natürlich muss sich jede praktisch tätige Ärztin und jeder entsprechend tätige Arzt damit beschäftigen und die nötige Kompetenz erwerben. Dabei bieten die Bereiche, in denen Patientinnen und Patienten mit ihren Beschwerden ins Gesundheitssystem kommen, die größte Herausforderung: die Krankenhaus-Notaufnahme, die hausärztliche Praxis, der Ärztliche Bereitschaftsdienst. Als wissenschaftliches Thema drängte es sich nach meinem Studium im Vereinigten Königreich geradezu auf, denn hier konnte ich eine ganz andere Art kennenlernen, diagnostische Daten zu erheben und zu verwerten. Dort spielt die Symptombeschreibung durch die Patientinnen und Patienten eine viel größere Rolle und führt zu ganz anderen Überlegungen als in der kontinentaleuropäischen Tradition. Ist es ausreichend, sich beim Diagnostizieren auf klinische Leitlinien zu verlassen, die auf wissenschaftlicher Evidenz beruhen? Die meisten Leitlinien halten sich eher bedeckt, wenn es um das Diagnostizieren geht; ihr Schwerpunkt liegt klar auf der Behandlung. Lehrbücher, auch die digitalen Medien sind ausführlicher. Letztlich kann das Diagnostizieren nur im alltäglichen Setting von Praxis und Krankenhaus gelernt werden. Natürlich sind hier Vorbilder, Supervision und eine Reflexion des eigenen Tuns erforderlich, aber ohne die Arbeit an Patientin oder Patient geht es nicht. Hier hat unsere aktuelle medizinische Ausbildung schwere Mängel, aber dazu zeige ich die Alternativen auf. Was sind die wichtigsten Aspekte, die in eine ärztliche Diagnose mit einbezogen werden sollten? Im Buch werden die Botschaften der einzelnen Wissenschaften und Perspektiven in einem praxisorientierten Modell zusammengeführt. Dies besteht aus Schichten, geradezu einer Tektonik, um auch der historischen Entwicklung gerecht zu werden. Demnach sind die Funktionen des Heilers, des Detektivs, des Gatekeepers und des Partners zu erfüllen. Das Fremdeste ist hier sicher der archaische Heiler, der vor allem per Ritual seine Wirkung entfaltet. Paradoxerweise ist dieser gerade in der modernen, technisch orientierten Medizin oft der stärkste Wirkmechanismus! Der Heiler ist jedoch nichts, was wir durch Appelle an Rationalität oder Wissenschaftlichkeit eliminieren könnten; er ist immer dabei, und wir müssen ihn selbstkritisch nutzen. Welche Bedeutung messen Sie den immer ausgefeilteren technischen Untersuchungen bei? In der Medizin ist die Technik überladen vonHoffnungen und – eng damit zusammenhängend – von oft dramatischen Plazebo-Effekten, die den Beteiligten interessanterweise gar nicht auffallen. Hier ist dann nüchterne evaluative Wissenschaft gefragt: Was leistet die neue Bildgebung oder der Biomarker wirklich? Angesichts entsprechender Untersuchungen stellt sich oft Ernüchterung ein. Ich plädiere hier ganz klar dafür, die Angaben der Patientin oder des Patienten (Anamnese) und die körperliche Untersuchung (Betrachten, Abhören, Abtasten) zunächst einmal auszunutzen, auch wenn das heute ein wenig altbacken wirkt. Oft sind darüber hinausgehende technische Untersuchungen nicht nötig oder sogar irreführend. Was gilt es in der universitären Lehre zu beachten, um Medizinstudierende zu guten Diagnosen zu befähigen? Der frühzeitige Kontakt mit realen Patientinnen und Patienten sorgt nicht nur für mehr Kompetenz. Er relativiert auch die arrogante Illusion, die Welt vollständig zu verstehen. Die stellt sich leicht ein, wenn die Lehre nicht aus der Theorie herauskommt. Reale Patientinnen und Patienten lehren uns die große Variabilität von Symptomen und Befunden, dass es für viele keine plausible biomedizinische Erklärung gibt, dass die Unsicherheit allgegenwärtig ist. Trotzdem können sie verantwortungsvoll betreut werden – die Strategien dafür gilt es zu vermitteln. Ein interessanter Punkt sind tatsächliche oder vermeintliche Fehleinschätzungen, eine Sorge, die viele praktizierende Ärztinnen und Ärzte umtreibt. Defensivmedizin ist allerdings die falsche Konsequenz, also Maßnahmen, die nicht im Interesse der Patienten liegen, sondern nur den Ärzten als Rechtfertigung dienen, wenn es anders läuft als erwartet. Deshalb ist es ein so wichtiges Thema, wie man einen diagnostischen Fehler vermeidet und gegebenenfalls damit umgeht. Die Fragen stellte Ina Lohaus. Norbert Donner-Banzhoff:Die ärztliche Diagnose. Erfahrung – Evidenz – Ritual. Hogrefe Verlag 2022, 44,95 Euro. Norbert DonnerBanzhoff ist Professor (i.R.) und Gastwissenschaftler am Institut für Allgemeinmedizin der Philipps-Universität Marburg. AUTOR

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