12|23 Forschung & Lehre 907 FORSCHUNGSFELDER IM WANDEL te und Wissensformen rekurriert – als theorie- oder wissensorientierte Interdisziplinarität. Hier handelt es sich um disziplinübergreifende Konzepte, wie z.B. Kybernetik, Systemtheorie, Spieltheorie, Synergetik, Selbstorganisations-, Komplexitäts- und Chaostheorien, Evolutionstheorien, aber auch heutige Modelle in KI und Ma chine Learning. Die se Konzepte werden in unterschiedlichen Fachdisziplinen als Theo rieelemente verwendet und entfalten eine produktive Erklärungskraft. Auf struktureller Ebene werden Ähnlichkeiten verschiedener disziplinärer Gegenstandsund Forschungsfelder sichtbar – eine nicht selten beeindruckende Syntheseleistung. Ein solcher Interdisziplinaritätstyp ist äußerst anspruchsvoll. Schließlich findet sich ein anders gearteter Typ, nämlich der der problemorientierten Interdisziplinarität. Dieser ist in den letzten 20 Jahren prominent und einflussreich geworden. Problemorientiert wird dieser Typ genannt, insofern gesellschaftliche und ethische Probleme identifiziert und als Herausforderungen für die Forschung gesehen werden. Der Klimawandel oder die Nachhaltigkeitstransformation des Energiesystems sind Beispiele. Wenn nicht-wissenschaftliche Praxisakteure involviert sind, wird gelegentlich von Transdisziplinarität gesprochen. Allgemein ist dieser Interdisziplinaritätstyp charakteristisch für die Nachhaltigkeitsforschung, die Friedensund Konfliktforschung, die Technikfolgenabschätzung und viele andere. Für all diese Typen gilt: Die Interdisziplinarität eines neuen Forschungsfelds heute – also eines Forschungsfeldes in der Genese – mündet nicht selten in einer neuen Disziplinarität morgen. Wissenschaftsfortschritt ist oft jeweils mit Interdisziplinarität verbunden. So tragen Disziplinarität und Interdisziplinarität stets einen historischen Index. Perspektiven Allgemein ist die Pluralität von Interdisziplinarität unumgehbar. Dies gilt auch deshalb, weil man nach disziplinärer Herkunft, nach Wissenschaftsverständnis und Forschungsinteresse den einen oder den anderen Typ von Interdisziplinarität bevorzugen wird – und andere Formen erscheinen dann als sekundäre Folge oder reine Konsequenz. Für die Genese von neuen Forschungsfeldern und insbesondere zur organisatorischen Gestaltung der Forschungspraxis ist es indes mehr als angezeigt, die Pluralität zu reflektieren und Differenzierungen vorzunehmen. Dieser Beitrag basiert auf dem an der Hochschule Darmstadt mit Partnern (Georgia Tech, U of North Texas, U Amsterdam, u.a.) durchgeführten Projekt „Philosophy of Interdisciplinarity“. Siehe auch: Schmidt, J. C.: Philosophy of Interdisciplinarity. Studies in Science, Society and Sustainability. Routledge, London/New York, 2022. (https://www.routledge.com; open access chapt. 1, 2, 8 & Interlude) »Es ist offenbar die Stunde, das Jahrzehnt, gar das Jahrhundert der Interdisziplinarität! Wer von Interdisziplinarität spricht, will etwas.« Foto: mauritius images/pitopia
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