Forschung & Lehre 12/2023

12|23 Forschung & Lehre 909 FORSCHUNGSFELDER IM WANDEL oder sind die Relationen vorrangig? Wie ist ein Smartphone oder eine Zuchtpflanze dann zu beschreiben, wie die Konstituierung, Durchdringung und Gestaltung des Untersuchungsgegenstands zu verstehen? Damit schließen wir an Fragen an, wie sie im Forschungsbereich des sogenannten neuen Materialismus gestellt werden. Diese Überlegungen und die Beschäftigung mit dem Anthropozän führten mich zum Homo hortensis, dem „gärtnerischen Menschen“, der auch eine stärkere normative Komponente in meine Forschung brachte. Der gestaltende Homo hortensis gesellt sich neu zu den drei Arendtschen Handlungsmodi, dem handelnden Zoon politikon, dem arbeitenden Animal laborans und dem herstellenden Homo faber. Indem er sich permanent in ein Spiel um die Grenzen seines Eingreifens involvieren lässt, stellt sich Homo hortensis auch neoliberaler Logik und Entfremdung entgegen. Homo hortensis ist auf lokale und historische Situiertheit aus, auf Kultivierung von Verantwortung, Aufmerksamkeit und „Care“. Das Beziehungsgefüge „Garten“ wird dabei als ein skalenübergreifendes Modell aufgefasst, an dem Handlungsperspektiven entwickelt werden, mit und nicht gegen den Eigensinn resilienter Strukturen in der Umwelt zu leben. Gärtnerisches Handeln in diesem Sinne hat das Potenzial, zu einer gesellschaftlichen Transformation mit ökotechnologischen, ethisch-politischen und ästhetischen Dimensionen beizutragen, nicht nur im Garten. Es ist eine umweltanthropologische Perspektive, die sich der kunstvollen Intervention verschrieben hat. Motivation In meinen Arbeiten zur Geschichte und Philosophie der Technowissenschaften bin ich immer wieder auf wenig überzeugende Verknüpfungen von Innovation und Nachhaltigkeit gestoßen. Die bei uns betriebene Umweltanthropologie ist ein Kritikangebot zum Anthropozän und gleichzeitig ein Vorschlag, die Relevanz sinnlicher Erfahrung und impliziter Wissensformen im Umwelthandeln ersnter zu nehmen. Wir entwickeln unsere Theorien durch praxisbezogene Forschung, betreiben gewissermaßen eine philosophische Feldforschung. Chancen und Herausforderungen Wir sehen uns als Teil einer inzwischen auch in Deutschland verbreiteten Fachrichtung, der Technik- und Wissenschaftsforschung. Dieses Feld wird einerseits als disziplinär und institutionell etabliert angesehen, es wird ihm zunehmend ein disziplinärer Theorie- und Methodenkern zugeschrieben. Gleichzeitig ist es durch hochdynamische Entwicklungen charakterisiert, sowohl methodisch wie in der Ausdehnung und Anpassung der Forschungsfragen auf immer neue Bereiche. Das nehme ich als Chance wahr, die Herausforderung besteht darin, sich in der häufig disziplinär orientierten Förderlandschaft zu bewegen. Forschungsfeld Im Forschungsbereich Wissenschaftsreflexion befassen wir uns interdisziplinär mit Fragen, die die Wissenschaft(en) selbst betreffen. Diese zielen darauf, die epistemischen, sozialen, historischen, ethischen, rechtlichen, ökonomischen und psychologischen Voraussetzungen und Folgen wissenschaftlichen Forschens und Handelns zu ergründen. Ein wichtiger Grund für die Entstehung dieses Bereichs war die Erfahrung, dass es zwar zahlreiche (Teil-)Disziplinen gibt, die die Wissenschaft(en) als Untersuchungsgegenstand haben. Allerdings arbeiten viele dieser Disziplinen oft innerhalb enger disziplinärer Grenzen und ohne strukturierte und regelmäßige Bezugnahmen auf andere Bereiche, in denen dieselben oder angrenzende Fragestellungen adressiert werden. Ziel der Wissenschaftsreflexion ist es, dieser Vereinzelung und dem Nebeneinander der wissenschaftsbeforschenden Disziplinen entgegenzuwirken – etwa durch Kooperationsnetzwerke, gemeinsame Tagungen oder disziplinübergreifende und -verbindende Forschungsprojekte. Die Wissenschaftsreflexion kann auch auf der Grundlage von Forschungsergebnissen eine wichtige Rolle dabei spielen, konkrete Kritik an der Wissenschaft aufzugreifen, Verbesserungen herbeizuführen und das Vertrauen in die Wissenschaft zu stärken. Motivation Ein erster Grund für meine Begeisterung an diesem Forschungsfeld geht zurück auf die zahlreichen kritischen Debatten, die in den letzten Jahren sowohl in den Wissenschaften als auch über die Wissenschaft geführt wurden. Dazu gehören die Frage nach der Aussagekraft und Zuverlässigkeit von wissenschaftlichen Studien, die im Kontext der sogenannten „Replikationskrise“ virulent wurde, oder die Diskussionen über die Rolle der Wissenschaften in der Coronakrise und über das Vertrauensverhältnis zwischen Öffentlichkeit und Wissenschaft. All diese Fragen verlangen nach einer Antwort aus der Wissenschaft selbst heraus, die aber nicht von einer einzelnen Disziplin gegeben werden kann. Ein zweiter Grund besteht in der Chance, die das Forschen zu solchen Fragen für mein eigenes Fach, die Philosophie, bietet. Philosophinnen und Philosophen können im Bereich der Wissenschaftsreflexion wichtige Impulse setzen, sowohl was Fragen der praktischen Philosophie, etwa der Forschungs- und Wissenschaftsethik angeht, als auch hinsichtlich wichtiger Fragen der theoretischen Philosophie, etwa nach dem epistemischen Status wissenschaftlicher Aussagen und Ergebnisse in unterschiedlichen Disziplinen oder nach den Kriterien für Erfolg und Scheitern in den Wissenschaften. Chancen und Herausforderungen Die Herausforderungen im Forschungsalltag sind typisch für Bereiche, in denen interdisziplinär geforscht wird: Begrifflichkeiten müssen erklärt oder geschärft, Missverständnisse ausgeräumt und gemeinsame Forschungs- und Publikationsformate gefunden werden. Zudem erfordert diese Form des kooperativen Forschens und Arbeitens ein hohes Maß an Offenheit und Lernbereitschaft – man muss den Kolleginnen und Kollegen aus anderen Fächern nicht nur zuhören, sondern auch bereit sein, sich vertieft in andere Fächer und Fachkulturen hineinzudenken und Dinge in Frage zu stellen, die man innerhalb der eigenen Fachlichkeit vielleicht für unstrittig und nicht weiter erklärungsbedürftig gehalten hat. Dieser Aufwand lohnt sich aber sehr: durch das Zusammenführen unterschiedlicher Perspektiven kann Wissenschaftsreflexion die Vielfalt der Wissenschaften besser abbilden und erklären, Antworten auf wissenschaftskritische Fragen geben und zu Weiterentwicklungen in den Wissenschaften und in der Kommunikation von Wissenschaft anregen. Dr. Michael Jungert leitet das Kompetenzzentrum für interdisziplinäre Wissenschaftsreflexion (ZIWIS) der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Foto: Uwe Niklas

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