Forschung & Lehre 12/2023

Forschung & Lehre 12|23 910 FORSCHUNGSFELDER IM WANDEL Interdisziplinäre Forschung Soziale Prozesse werden unterschätzt Forschung & Lehre: Frau Professorin Barlösius, wie hängen Interdisziplinarität und Forschungskreativität bzw. Innovation zusammen? Eva Barlösius: Interdisziplinäre Forschung wird als Versprechen angesehen, dass daraus etwas Neues, Kreatives, entsteht. Damit verbunden sind unterschiedliche Vorstellungen von Interdisziplinarität. Die Grundidee ist sehr häufig, dass sich ein neues Forschungsfeld entwickelt und etabliert, in dem unterschiedliche Theorien, Methoden und Instrumente zusammengeführt werden. Aber das Versprechen wird relativ selten eingelöst, weil das, was Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bereits vorher leisten müssen, viel zu wenig betrachtet wird. F&L: … und das wäre? Eva Barlösius: In einer empirisch angelegten Begleitforschung über die Demonstratoren im Exzellenzcluster PhoenixD haben wir untersucht, wie die verschiedenen disziplinären Forschungslinien in praktischen Anwendungen zusammengeführt werden. Die Aufgabe besteht darin, einen Demonstrator zu entwickeln, der eine praktische Anwendung der Forschungsergebnisse zeigt. Von den Forschenden haben wir in Interviews die Rückmeldung bekommen, dass das Lernen von Interdisziplinarität sehr viel umfassender ist als erwartet. Es geht nicht nur um die Auseinandersetzung mit den Theorien oder den Methoden des anderen, sondern sehr stark um die Wahrnehmung von Differenz gegenüber anderen Forschungsgebieten. Das beinhaltet die Organisation der Forschungsprozesse und -projekte, wie man sie zeitlich taktet, wie Mitarbeitende zusammenarbeiten et cetera. Aber auch der Prozess der Anerkennung ist wichtig. Das, wofür man Reputation erhält, ist in den Disziplinen und Fachgebieten sehr unterschiedlich. Diese sozialen Prozesse haben die Forschenden zu leisten, was sie aber häufig unterschätzen. F&L: Finden sich diese Aspekte auch in den Definitionen zu Interdisziplinarität? Wo liegen die Schwierigkeiten? Eva Barlösius: In der Forschung zu Interdisziplinarität findet man unzählige Definitionen. Fast alle konzentrieren sich auf kognitiv-konzeptionelle Aspekte von Forschungsgebieten, also die Theorien, Methoden und die Instrumente, mit denen gearbeitet wird. Kaum berücksichtigt wird, dass Forschungsgebiete auch eine eigene Organisation der Forschung haben, eigene Bewertungsund Anerkennungssysteme, also alles das, was Forschungsgebiete sozial und kulturell ausmacht. Darüber hinaus gehen die Definitionen von einer relativen Homogenität von Disziplinen aus, die in der Wirklichkeit gar nicht existiert. Es gibt nicht die Physik, die eine Physikerin beziehungsweise ein Physiker in der Gesamtheit beherrscht. Wenn ein Physiker und eine Chemikerin innerhalb ihrer eigenen Disziplin forschen, benötigen sie eine Art interdisziplinäres Verständnis, weil die Fächer bereits so ausdifferenziert sind. Das sind aus meiner Sicht die zwei großen Defizite von bestehenden Definitionen. Wir bräuchten eine völlige Neukonzeption dessen, was eigentlich „interdisziplinär“ bedeutet. In unseren Interviews hat beispielsweise ein Maschinenbauer erklärt, dass er wie ein Physiker denkt und forscht, sich aber trotzdem als Maschinenbauer versteht. Die Forschungsweise der Forschenden, die länger auf diesen Grenzlinien arbeiten, verändert sich. Es | IM GESPRÄCH | Hinter dem Begriff „Interdisziplinarität“ verbirgt sich sehr Unterschiedliches. Was braucht es für eine fruchtbare interdisziplinäre Forschungszusammenarbeit? Was wurde bislang zu wenig berücksichtigt? Eva Barlösius ist Professorin für Makrosoziologie und Sozialstrukturanalyse sowie Sprecherin des Forums Wissenschaftsreflexion an der Leibniz Universität Hannover (LUH). »Die Forschungsweise der Forschenden, die länger auf diesen Grenzlinien arbeiten, verändert sich.«

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