Forschung & Lehre 12/2023

Forschung & Lehre 12|23 918 DISRUPTIVE FORSCHUNG Die qualitative Bewertung wissenschaftlicher Ergebnisse Ein Wegbereiter disruptiver Forschung Aktuelle Untersuchungen der Zitationshäufigkeiten von wissenschaftlichen Artikeln und Patenten kommen zu dem verblüffenden Ergebnis, dass disruptive wissenschaftliche Erkenntnisse im Vergleich zu konsolidierenden Erkenntnissen während der letzten Jahrzehnte kontinuierlich und drastisch zurückgegangen sind. Disruptive Wissenschaft ist bedeutsam, weil sie mit innovativen Erkenntnissen bisherige Forschungsansätze und -ergebnisse in Frage stellt und neue Paradigmen begründet, die alternative Forschungsfragen und -richtungen eröffnen. Demgegenüber ergänzt und verbessert die konsolidierende Wissenschaft bestehendes Wissen. Sie ist bedeutsam, denn sie fügt im Rahmen bestehender Forschungsansätze inkrementell kleinere Erkenntnisbausteine hinzu und erhöht damit die Zuverlässigkeit der Erkenntnisse und ihre praktische Anwendbarkeit. Dass heute hauptsächlich konsolidierende Wissenschaft betrieben wird und der Anteil disruptiver Erkenntnisse immer weiter gesunken ist, ist aus zwei Gründen verblüffend. Zum einen ist dieser Trend in einer großen Bandbreite von Disziplinen zu beobachten: den Naturwissenschaften, den Lebenswissenschaften und den Sozialwissenschaften. Zum anderen ist die schiere Zahl der wissenschaftlichen Zeitschriftenveröffentlichungen in allen Disziplinen erheblich angestiegen. Nach den Postulaten der Wissenschaftstheorie sollten diese Entwicklungen eigentlich zu wissenschaftlichen Revolutionen und neuen Paradigmen führen. Auf jeden Fall ist der drastische Rückgang disruptiver Erkenntnisse bereits ein Anlass zur Sorge für politische Entscheidungsträger. Er bedroht potenziell den Fortschritt in vielen gesellschaftlichen Bereichen. Erklärung für Rückgang Wie lässt sich der Rückgang disruptiver Erkenntnisse erklären? Vier Erklärungen bieten sich an: Die Überlagerungsthese. Oft ist der Wert einer disruptiven Erkenntnis erst nach langer Zeit ersichtlich und nachdem ein neues Paradigma durch konsolidierende Forschung präzisiert wurde. Es ist somit denkbar, dass disruptive Erkenntnisse im Laufe der Zeit in Vergessenheit geraten und durch konsolidierende Erkenntnisse überlagert werden, die auf ihnen aufbauen. Häufig werden Nobelpreise für inkrementell gewonnene Erkenntnisse verliehen, wie Ralf Ludwig eindrücklich zeigt. Dabei werden eigentliche Entdecker mitunter übersehen. Ein aktuelles Beispiel ist die Verleihung des Nobelpreises für Medizin an Katalin Karikó und Drew Weissman, die aufbauend auf der mRNA-Technologie den CoronaImpfstoff entwickelt haben. Obwohl Karikó und Weissman ohne Zweifel würdige Preisträger sind, hat das Nobelpreiskomitee (zumindest im laufenden Jahr) übersehen, dass Robert Malone 1989 den ersten bahnbrechenden Artikel zur mRNA-Technologie veröffentlicht hat. Obwohl die Überlagerungsthese in einigen Fällen die Nichtbeachtung disruptiver Erkenntnisse erklären kann, ist sie nur eine partielle Erklärung für den beobachteten Trend. Auch widerspricht der These, dass die Zeitspanne zwischen der ursprünglichen Entdeckung und der Verleihung eines Nobelpreises im Zeitablauf ebenfalls angestiegen ist. Dies legt nahe, dass Nobelpreiskomitees den Wert früher Disruptionen doch erkennen und dass jüngere Erkenntnisse nicht an die Vergangenheit heranreichen. Die These der „niedrig hängenden Früchte“. Wie bei einem Apfelbaum, bei dem es mit zunehmender Höhe schwieriger wird Äpfel zu ernten, wird auch der wissenschaftliche Fortschritt komplizierter, je mehr einfache Probleme gelöst sind. Disruptive Erkenntnisse werden seltener, da sie immer komplexere und teurere Forschung erfordern. Die These der „Bürde des Wissens“. Durch die kontinuierlich anwachsende Flut von Veröffentlichungen werden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kognitiv überlastet. Sie können nicht mehr alles lesen, sondern müssen eine Auswahl treffen. Diese Auswahl fällt oft auf bekannte, weit verbreitete Arbeiten. Dies zementiert den Status quo, vernachlässigt neuere Arbeiten mit disruptiven Implikationen und hält Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler davon ab, sich mit Ideen zu beschäftigen, die allzu weit von den anerkannten Paradigmen entfernt sind. I RUDI K.F. BRESSER I Die Diskussion über den Zusammenhang zwischen konsolidierender und disruptiver Forschung vernachlässigt die qualitative Dimension der Konsolidierung . Diese ist in den Sozialwissenschaften von besonderer Bedeutung .Wissenschaftliche Monographien können dazu beitragen, diese Dimension zu stärken, und sollten daher einen festen Platz im wissenschaftlichen Diskurs haben . Rudi K . F. Bresser ist Professor für Strategisches Management a.D. im Fachbereich Wirtschaftswissenschaft an der Freien Universität Berlin. AUTOR Foto: xxxx

RkJQdWJsaXNoZXIy MjMxMzg=