919 12|23 Forschung & Lehre DISRUPTIVE FORSCHUNG Die These der „Korporatisierung der Wissenschaft“. Die letzten Jahrzehnte haben zu einer zunehmenden Orientierung von Wissenschaft und Forschung an den Praktiken des Privatsektors geführt. Institutionen und Wissenschaftler werden verstärkt anhand von Wettbewerbskriterien wie Exzellenz, Produktivität und Effizienz bewertet. Dies führt zu einer starken Orientierung an kurzfristigen Ergebnissen. Es geht Forschenden oft darum, in kurzen Zeiträumen möglichst viele Zeitschriftenartikel in renommierten Fachzeitschriften zu veröffentlichen und besonders häufig zitiert zu werden. Die Qualität der Forschung leidet in diesem System, denn es ist leichter und schneller, den bestehenden Kenntnisstand inkrementell durch einen neuen Mosaikbaustein anzureichern, als potenziell disruptive, aber für den raschen Karrierefortschritt riskante Projekte durchzuführen. Quantitative und qualitative Konsolidierung Die beiden letzten Thesen liefern überzeugende Erklärungen für die zunehmende Bedeutung der konsolidierenden Wissenschaft. Inkrementelle Konsolidierung hat zwar zu bedeutenden Fortschritten in der Grundlagenforschung und der praktischen Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse geführt, dies ist aber insbesondere in den Natur- und Lebenswissenschaften der Fall, da in diesen Disziplinen grundlegende Forschungsparadigmen auf eine vergleichsweise breite Akzeptanz stoßen. Demgegenüber sind sozialwissenschaftliche Disziplinen oft durch eine Vielfalt konkurrierender Paradigmen gekennzeichnet, sodass die „Bürde des Wissens“ besonders virulent ist und inkrementelles Forschen leicht zu einer starken Fragmentierung und Unübersichtlichkeit führt. Aus diesem Grund erfordert die Konsolidierung unübersichtlich gewordener Disziplinen ein breiteres Verständnis. Konsolidierung ist nicht nur quantitativ im Sinne des Aneinanderreihens von Erkenntnisbausteinen definiert, sie hat auch eine qualitative Dimension. Die qualitative Dimension umfasst die zusammenfassende, kritische Bewertung vieler empirischer und konzeptioneller Ergebnisse und trägt dazu bei zu verstehen, wie sich die Ergebnisse mit bestehenden Theorien vertragen oder diese widerlegen. Qualitative Bewertungen sind insbesondere dann vonnöten, wenn eine große Zahl von Einzelergebnissen zu Unübersichtlichkeit innerhalb einer Disziplin geführt hat. Ein Beispiel liefert die Managementwissenschaft. In den Subdisziplinen des Managements ist der Druck, in kurzer Zeit viel zu publizieren, sehr ausgeprägt und hat eindeutig desintegrierende Konsequenzen gehabt. Da die führenden Fachzeitschriften erwarten, dass Publi kationen immer auch neuartige theoretische Einsichten beinhalten, werden Replikationen, die ein wichtiger Baustein der Konsolidierung sind, nur selten veröffentlicht. Stattdessen ergibt sich ein Bild der Fragmentierung und Zusammenhanglosigkeit. Im Strategischen Management hat die Korporatisierung der Wissenschaft dazu geführt, dass eine kaum übersehbare Zahl von theoretischen Ansätzen verwendet wird, um eine ständig wachsende Zahl von strategischen Fragestellungen empirisch zu untersuchen. Diese Vielfalt an theoretischen Linsen und interessierenden Phänomenen führte zu einer großen Zahl von unübersichtlich wirkenden Teilergebnissen, die sich oft widersprechen und weder konsolidierenden Charakter haben noch als wirklich bedeutsam erscheinen. Eine qualitative Konsolidierung ist dringend vonnöten. Fragmentierung Durch eine qualitative Konsolidierung wird es möglich, die Nützlichkeit einzelner Theorien und Fragestellungen kritisch zu hinterfragen und Alternativen aufzuzeigen. Dadurch wird einer Fragmentierung entgegengewirkt, denn die Wissenschaft wird an die wichtigen Fragestellungen einer Disziplin erinnert und an erfolgversprechende theoretische Ansätze zu ihrer Erforschung. Die Kritik des Bestehenden und das Aufzeigen von Alternativen kann durchaus auch disruptiven Erkenntnissen zum Durchbruch verhelfen, die entweder vorher übersehen wurden oder sich aus der neuen Fokussierung ableiten. In fragmentierten Disziplinen ist man sich der Notwendigkeit, die Flut der Erkenntnisse zu konsolidieren, durchaus bewusst. Mehrere Abhilfemaßnahmen werden diskutiert: häufigere Replikationen empirischer Studien, als integrierende Forschungsreviews positionierte Artikel, wissenschaftliche Monographien und eine Abkehr von der Korporatisierung der Wissenschaft. Diese Vorschläge gehen alle in die richtige Richtung. Allerdings eignet sich die wissenschaftliche Monographie besonders gut als Mittel zur qualitativen Konsolidierung stark fragmentierter Disziplinen. Wissenschaftliche Monographie Wissenschaftliche Monographien bieten die Möglichkeit, sich kritisch und ohne die Seitenzahlbeschränkungen eines Artikels mit bestehenden Forschungsansätzen auseinanderzusetzen. Dies kann dazu führen, dass neue Theorien und Konzepte entwickelt werden, die den Status quo grundlegend verändern. Ein Beispiel ist die durch Gary Becker (1964) in einer Monographie entwickelte Humankapitaltheorie. In Erweiterung der Überlegungen früherer Ökonomen zur Bedeutung der Bildung für den Wohlstand eines Landes schlug Becker vor, Bildungsausgaben eines Unternehmens nicht wie bisher schlicht als Kosten zu betrachten, sondern als Investitionsentscheidungen in Humankapital, die, wie alle Investitionen, einen positiven Erfolgsbeitrag haben müssen. Diese Idee hat viele empirische Studien inspiriert und Personalentscheidungen revolutioniert, insbesondere jene, die Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen und motivationssteigernde Belohnungssysteme betreffen. Das deutsche System der Qualifikation für eine Universitätsprofessur hat mit der Habilitation ein Instrument, das der qualitativ bewertenden Konsolidierung wissenschaftlicher Disziplinen sehr förderlich sein kann. In der Folge der Korporatisierung der Wissenschaft wandelte sich die Habilitation zunehmend zu einem kumulativen Phänomen und die Habilitation als Monographie ist eher selten anzutreffen. Insbesondere für stark fragmentierte Disziplinen ist es empfehlenswert, der Habilitation als wissenschaftlicher Monographie wieder mehr Gewicht zu verleihen. Eine Fassung des Textes mit Literaurangaben kann von der Redaktion angefordert werden. »Konsolidierung ist nicht nur quantitativ im Sinne des Aneinanderreihens von Erkenntnisbausteinen definiert, sie hat auch eine qualitative Dimension.«
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