Forschung & Lehre 12/2023

12|23 Forschung & Lehre 921 NAHOSTKONFLIKT Truppen und Siedler aus dem Gazastreifen durch. Da diese Räumung ohne die Koordination mit der PA erfolgte, konnte die Hamas dies als Erfolg für sich und als Resultat ihres bewaffneten Kampfes reklamieren. Nachdem die Hamas die palästinensischen Parlamentswahlen 2006 überraschend gewonnen hatte, aber durch die konkurrierende Fatah sabotiert und international isoliert wurde, kam es zu innerpalästinensischen Auseinandersetzungen, die in eine gewaltsame Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen 2007 mündeten. Bereits 2006 riegelte Israel in Reaktion auf die Entführung des Soldaten Gilad Schalit den Gazastreifen ab, wodurch Personen und Güter diesen nur noch in Ausnahmefällen verlassen oder hineingelangen konnten. Da Israel trotz des Truppenabzugs Landgrenzen, Meereszugang, Luftraum und elektromagnetisches Spektrum kontrolliert, gilt der Gazastreifen weiterhin als besetzt. Die Zustimmung der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen für die Hamas ist keineswegs so umfassend, wie es gelegentlich scheint. Laut Umfragen des renommierten Palestinian Center for Policy and Survey Research vom September 2023 hätten bei Parlamentswahlen im Gazastreifen lediglich 44 Prozent der Bevölkerung für die Liste der Hamas gestimmt. 73 Prozent der Befragten im Gazastreifen betrachteten die Hamas-Regierung dort als korrupt. In den letzten Jahren gab es zudem immer wieder Proteste gegen die Hamas-Herrschaft, zuletzt Ende Juli 2023. Und das, obwohl es sich im Gazastreifen um ein autoritäres Regime handelt und die Demonstranten erheblichen Repressionen ausgesetzt sind. Da Israel kein Interesse an einem humanitären Kollaps des Gazastreifens hatte, ließ es die israelische Regierung zu, dass die katarische Regierung hunderte Millionen US-Dollar dorthin transferierte. Die Hamas wurde zwar als Feind angesehen, und es kam auch immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen. Zugleich hat Israel mit der Hamas aber auch Waffenstillstände und Gefangenenaustausche ausgehandelt. Nachdem Benjamin Netanjahu 2009 ins Premierministeramt zurückgekehrt war, zeigte er kein ernsthaftes Interesse an einer Zweistaatenregelung. Vielmehr diente ihm die Hamas als willkommener Vorwand, um die PA von Mahmud Abbas zu schwächen, indem er behauptete, dass es aufgrund der innerpalästinensischen Spaltung auf palästinensischer Seite keinen Partner für Verhandlungen gebe. Gegenüber Abgeordneten seiner eigenen Partei erklärte er 2019 laut der israelischen Tageszeitung Haaretz, dass jeder, der einen palästinensischen Staat ablehne, die Zahlung von Geldern nach Gaza unterstützen müsse, weil durch die Aufrechterhaltung der Spaltung zwischen PA im Westjordanland und der Hamas in Gaza die Schaffung eines palästinensischen Staates verhindert werde. Der israelischen Bevölkerung vermittelte Netanjahu erfolgreich, dass nur er in der Lage sei, für Israels Sicherheit zu sorgen und dass existenzielle Bedrohungen nur vom Iran, nicht aber von den Palästinensern, ausgehen. Hinzu kam die Annahme, dass die Palästinafrage bei der Normalisierung der Beziehungen mit arabischen Staaten im Rahmen der sogenannten Abraham Accords übergangen werden könnte. Daraus folgte für Netanjahu, dass es ausreicht, den Konflikt mit den Palästinensern zu managen – unter anderem durch ökonomische Zugeständnisse und regelmäßige Waffengänge in Gaza – und dass eine Konfliktregelung nicht erforderlich sei. Tatsächlich war die Situation der Palästinenser in den besetzten Gebieten in den letzten Wahlkämpfen bei keiner Partei mehr ein Thema, wohingegen Debatten über die Annexion von Teilen des Westjordanlandes auch im politischen Zentrum stattfanden. Die seit Ende 2022 amtierende extrem rechte Regierung unter Netanjahus Führung stellte sogleich ihre Kompromisslosigkeit unter Beweis, indem sie erklärte: „Das jüdische Volk hat ein exklusives und unveräußerliches Recht auf »Die Zustimmung der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen für die Hamas ist keineswegs so umfassend, wie es gelegentlich scheint.« Foto: picture alliance / AP Zerstörung: Gazastreifen im November 2023

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