Forschung & Lehre 12|23 922 NAHOSTKONFLIKT alle Teile des Landes Israel“. Das wichtigste innenpolitische Projekt Netanjahus bestand in einem umstrittenen Justizumbau, der ihn vor Strafverfolgung wegen Korruption schützen soll und dessen Umsetzung faktisch die Gewaltenteilung aufheben würde. Zehntausende Israelis, die um das Fortbestehen der Demokratie in ihrem Land fürchteten, demonstrierten über Monate gegen das Vorhaben. Die Folgen des Hamas-Überfalls Am Vorabend des Hamas-Überfalls vom 7. Oktober wirkte Israel aufgrunddessen innenpolitisch abgelenkt. Hinzu kam, dass es bereits seit 2022 wiederholt gewaltsame Übergriffe sowohl bewaffneter palästinensischer Gruppen als auch radikaler Siedler im Westjordanland gab. Die Situation im Gazastreifen schien handhabbar. Diese Wahrnehmung stellte sich als trügerisch heraus. Eine Lesart, die sich aus dem Hamas-Überfall vom 7. Oktober und dem anschließenden Gazakrieg ergibt, ist, dass es unzureichend und unverantwortlich war, den Konflikt bloß zu managen und dass eine Konfliktregelung mit großer Dringlichkeit verfolgt werden sollte. Zwar sind die Chancen für eine Zweistaatenregelung durch diesen Überfall nicht gestiegen. Eine Perspektive für den Gazastreifen sollte aber unbedingt mit dem Ziel einer nachhaltigen Konfliktregelung verbunden werden. Andernfalls besteht die Gefahr, dass sich durch einen Mangel an ökonomischer Entwicklung und politischen Perspektiven im Gazastreifen neue Gruppen herausbilden, die Israel bekämpfen wollen. So erklärte US-Präsident Joe Biden am 25. Oktober 2023: „Wenn diese Krise vorbei ist, muss es eine Vision geben, was danach kommt, und das muss unserer Meinung nach eine Zwei-Staaten-Lösung sein“. Der britische Premier Rishi Sunak und Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron äußerten sich ähnlich, und auch Bundeskanzler Olaf Scholz sprach sich für eine Zwei-Staaten-Lösung aus. Noch wichtiger: Als zentraler regionaler Akteur bekräftigte auch Jordaniens König Abdallah II. die Bedeutung der Zwei-Staaten-Lösung. Eine schwache PA unter dem greisen Präsidenten Abbas und mangelnder politischer Wille seitens Netanjahu stellten bislang wesentliche Hindernisse für eine Wiederaufnahme von Verhandlungen dar. Diese vermeintliche Aussichtslosigkeit wirkte sich auch auf die Zustimmung zur Zweistaatenregelung aus. In beiden Bevölkerungen befürworten nur noch rund 30 Prozent eine solche Regelung. Auf der einen Seite wäre daher eine erneute demokratische Legitimation der PA – die sich weiterhin zur Zweistaatenregelung bekennt – durch Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ein wichtiger Schritt. Andererseits braucht es auf israelischer Seite eine politische Führung, die die Notwendigkeit einer Friedensreglung mit den Palästinensern erkennt. In diesem Sinne bekräftigte der Oppositionspolitiker und ehemalige Außenminister sowie kurzzeitige Ministerpräsident Jair Lapid auch nach dem Attentat der Hamas, dass er sich einer Zweistaatenregelung verpflichtet fühlt und diese im besten Interesse Israels sei. Die Rolle regionaler und internationaler Akteure Die Rolle regionaler und internationaler Akteure besteht darin, kurzfristig eine verschärfte israelische Abriegelung des Gazastreifens sowie eine dauerhafte Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung zu verhindern und dies langfristig sowohl mit einer Wiederaufbauperspektive des Gazastreifens als auch mit der Schaffung von Rahmenbedingungen zu verbinden, die einer dauerhaften Friedensregelung förderlich sind. Darauf aufbauend muss ein Rahmen für Verhandlungen geschaffen werden, der die Fehler des gescheiterten OsloFriedensprozesses nicht wiederholt. Angesichts des asymmetrischen Machtverhältnisses zwischen Israel und den Palästinensern, fehlte es an einer erforderlichen aktiven internationalen Einmischung. Es sollte eine Vorgabe klarer Parameter erfolgen, innerhalb derer sich die Konfliktparteien einigen können. Diese Vorgaben sollten zudem mit positiven aber auch negativen Anreizen verbunden werden. Fortschritte im Friedensprozess sollten dementsprechend belohnt werden, die Verweigerung sollte ebenso Folgen haben. Auch die bisher unterlassene Verknüpfung der im Zuge der Arabham Accords erfolgten Normalisierung zwischen Israel und einzelnern arabischen Staaten einerseits und der Palästinafrage andererseits könnte hier eine konstruktive Rolle spielen. Fest steht: Damit Israelis und Palästinenser dauerhaft in Frieden und Sicherheit leben können, bedarf es einer umfassenden und nachhaltigen Konfliktregelung. In diesem Jahr ist das Buch von Jan Busse und Muriel Asseburg „Der Nahostkonflikt: Geschichte, Positionen, Perspektiven“ bei C.H. Beck in überarbeiteter und aktualisierter Form neu aufgelegt worden. KLEINE FÄCHERKUNDE Was erforschen Sie? Nordfriesische Texte im weitesten Sinne, vor allem literarische Texte. Was fasziniert Sie daran? Die Ideologien zu rekonstruieren, die (nordfriesischen) Artefakten zugrunde liegen, gerade in Hinblick auf die Konstruktion von Geschlechterrollen und anderen sozialen Strukturen. Die nordfriesische Literatur wurde bisher noch nicht sehr ausgiebig untersucht und bietet dementsprechend viel frisches „Material“ für textanalytische Arbeiten. Für wen ist das wichtig? Für die nordfriesische Literaturlandschaft und das Ansehen der Sprache sind sicher Neu-Herausgaben von nordfriesischen Texten und die wissenschaftliche Beschäftigung mit nordfriesischer Literatur wichtig. Jeder und jedem sollte der kritische Umgang mit kulturellen Artefakten wichtig sein. Deren Konstruiertheit zu „durchschauen“ und zu analysieren ist beispielsweise in Hinblick auf Fragen nach ihrer Funktionalisierung für Fremd- und Eigendarstellungen von Gruppen entscheidend. Das gilt nicht nur für nordfriesische Texte, sondern für sämtliche, auch weltpolitische Diskurse. Dr.WendyVanselow ist seit 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin für das Fach Frisistik an der Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel. Foto: Jolanda Vanselow
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