Forschung & Lehre 12|23 924 NAHOSTKONFLIKT „Ein verändertes Land wartete aufmich“ Ein deutscher Wissenschaftler über die Lage in Israel Als ich Anfang Oktober mit meiner Frau auf dem Balkon im warm-goldenen Jerusalemer Licht saß, hatten wir ein gutes Gefühl. Unser erster Monat in Israel war vorbei, Freiburg als vorherige Station schien bereits weit in die Ferne gerückt. Wir waren angekommen. Schneller als gedacht. Unser kleiner zweijähriger Sohn hatte zwar immer noch mit seiner neuen hebräisch-arabischen Kita zu kämpfen, aber er konnte nicht genug bekommen von Falafel, Hummus und Tahini. Noch nie hatte ich die Anfangswochen in einem neuen Land als so leicht empfunden. Eine Welle der Hilfsbereitschaft von Kolleginnen und Kollegen, Bekannten sowie Verwaltungsangestellten der Hebräischen Universität hatte uns durch alle organisatorischen Aufgaben getragen, vom Zoll bis zur Kontoeröffnung. Essenseinladungen reihten sich aneinander wie auch Leihangebote für Fahrräder und sogar ein Auto. Wir hatten das arabische Ostjerusalem ebenso erkundet wie Tel Aviv, waren wandern gewesen und hatten im Mittelmeer gebadet. Die hohen jüdischen Feiertage im September waren vorbei, jetzt konnte das neue Semester beginnen. Ich war gespannt auf die Begegnungen mit meinen Studierenden, die Lehrpläne waren vorbereitet. Den transnationalen Islam mit jüdischen und palästinensischen Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmern zu diskutieren erschien mir ungemein herausfordernd und erfüllend an diesem Ort. Gerade auch, weil Ostjerusalem sowie das israelisch besetzte Westjordanland samt seiner palästinensischen, weitaus weniger Freiheitsrechte genießenden Bevölkerung in Sichtweite des Unicampus auf dem Skopusberg liegt. Parallele, scheinbar inkompatible Leben finden hier in unmittelbarer Nähe zueinander statt. Unbeschreibliche Katastrophe Nur noch eine kurze Konferenzreise zurück nach Deutschland galt es einzuschieben. Am Sonntag, 8. Oktober, wollte ich zurück sein. Doch als ich am Morgen des 7. Oktober auf mein Handy blickte, hatten sich schon unzählige Nachrichten meiner Frau angesammelt. Bewaffnete waren vom Gazastreifen eingedrungen? Raketenalarm selbst in Jerusalem? Die Lage war extrem undurchsichtig – und blieb es den ganzen Tag. Was erst noch relativ überschaubar wirkte, wuchs zu einer unbeschreiblichen Katastrophe, zu einem Exzess des Hasses und der Gewalt. Mit einer gehörigen Portion Glück vermochte ich für den 9. Oktober einen Rückflug mit der israelischen Fluglinie El Al zu ergattern, der einzigen Fluglinie, die noch flog. Ein verändertes Land wartete auf mich. Am Flughafen Ben Gurion fand ich mich als einziger Ausländer im Abfertigungsbereich wieder – und wurde nahezu ohne Kontrolle durchgewunken. Das passiert sonst nie. Tage in Jerusalem Die nächsten Tage hatten gespenstische Momente. Da der Luftalarm ausblieb, wollten wir der Enge unserer vorübergehenden Wohnung entfliehen und spazierten zum fünfzehn Minuten entfernten Campus der Hebräischen Universität. In den weitläufigen Gärten und Gebäuden war niemand zu sehen. Alle Cafeterien und Geschäfte waren geschlossen. Es mutete an wie in einer Pandemie mit uns als den letzten Überlebenden. Die Altstadt war gleichsam leergefegt, Touristenhotspots wie die Grabeskirche nur noch von Mönchen, Nonnen und Priestern der unterschiedlichen christlichen Konfessionen besucht. Und doch, inmitten all des Ausnahmezustands und der lähmenden Unsicherheit lief die beeindruckende Resilienzmaschine der Universität und des Landes an. Umfassende psychologische Betreuungsangebote richteten sich an alle Mitarbeitenden und Studierenden. Meditationsworkshops wurden aufgesetzt, sogar an Familien hatte man gedacht: Flugs wur- | SIMON WOLFGANG FUCHS | Der Islamwissenschaftler Simon Wolfgang Fuchs ist in diesem September als Professor aus Freiburg an die Hebräische Universität in Jerusalem gewechselt . Durch den Angriff der terroristischen Hamas auf Israel ging es für ihn und seine Familie nach kurzer Zeit vorübergehend zurück nach Deutschland . Seitdem steht er virtuell mit seinen Kolleginnen und Kollegen vor Ort im Austausch . SimonWolfgang Fuchs ist Associate Professor für Islam in Südasien und unterrichtet an der Hebräischen Universität in Jerusalem. AUTOR » Inmitten all des Ausnahmezustands lief die beeindruckende Resilienzmaschine der Universität und des Landes an.« Foto: Peter Himsel
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