12|23 Forschung & Lehre 925 NAHOSTKONFLIKT de der Zoom-Vortrag einer Professorin für Ornithologie organisiert, so dass die Gespräche und die Aufmerksamkeit der Kinder (und ihrer Eltern) um etwas anderes kreisen konnten als Schutzräume, Geiseln und die Warn-App. Letztere zeigte täglich hunderte von Vorkommnissen im ganzen Land an, von Raketen über Drohnen bis zum „Eindringen von Terroristen“. Beklemmung machte sich breit. Rückkehr nach Deutschland Aus Israel raus Richtung Europa flog nur noch El Al. Die Flüge waren auf absehbare Zeit ausgebucht. In der Westbank begann es zu brodeln, mit jedem israelischen Luftschlag auf Gaza mehr. Weitaus unberechenbarer war freilich die Situation im Norden in Gestalt von Hisbollah. Als die deutsche Botschaft schließlich bekanntgab, Sonderflüge zu organisieren, entschieden wir uns zum temporären Verlassen des Landes. Nach 260 Anrufen bei der Hotline – ich habe nachgezählt – hielten wir eine Buchung für Freitag, 13. Oktober, in den Händen. Auf dem Weg zur Straßenbahn trafen wir einen Kindergartenfreund unseres Sohnes. Er saß freudig quietschend auf den Schultern seines Vaters, der schon in der Uniform steckte, da er kurz zuvor seine Einberufung erhalten hatte. Wir fuhren durch eine Stadt, in der hauptsächlich Sicherheitskräfte unterwegs waren. Im Zug Richtung Küstenebene stand bei jedem Abbremsen die Frage im Raum, ob das mit Raketenbeschuss zu tun haben könnte. Seitdem sind wir nun in der regenfeuchten Stille des Münsterlands. In Sicherheit, aber natürlich mit dem Herz vor Ort im Nahen Osten. Neben dem Verfolgen aller schrecklichen Nachrichten erreichen mich beständig Zeichen des Weitermachens, der Normalität im Krieg. Unser Container ist durch den Zoll. Mein Büro wäre nun bezugsfertig. Die ID-Karte ist endlich ausgestellt. Mit Pragmatismus wurde das Semester mehrmals nach hinten verschoben, immer wieder neu geplant. „Wir beginnen Anfang November, nein doch Anfang Dezember, wahrscheinlich nicht vor dem 24.12.“, lauteten die Bekanntmachungen. Wie soll auch ein Studienbetrieb möglich sein, wenn knapp 40 Prozent aller Studierenden eingezogen wurden, von den Dozierenden ganz zu schweigen? Man spürt, dies sind Wochen, in denen vieles am seidenen Faden hängt. Zweifellos übt die vorher so gespaltene israelische Gesellschaft den Schulterschluss. Die Notwendigkeit des Kriegs wird über alle politischen Lager hinweg mit überwältigender Mehrheit gebilligt. Nach den Massakern durch die Hamas und im Lichte des unklaren Schicksals der Geiseln wirken die kontroversen Pläne von Netanjahus Regierung zum Thema „Justizreform“ wie aus einer anderen Zeit. Doch diese neue Einigkeit birgt enorme Risiken. Inmitten allem nachvollziehbaren „rallying around the flag“ schlägt diese Haltung schnell in ein „Wir oder die“ aus, in den Ruf nach Vergeltung und Rache. Wo liegen die Grenzen der Meinungsfreiheit? Was darf gesagt werden? Einer palästinensischen Kollegin und Juraprofessorin wurde unlängst von offizieller Seite nahegelegt, ihre Stelle aufzugeben. Sie hatte ihre Unterschrift unter eine Petition gesetzt, in der von „Genozid“ in Gaza die Rede war und davon, dass Israel seit 1948 eine Besatzung ausübe. Gerade der letzte Fall macht mir gleichzeitig Mut. Denn obwohl sich die wenigsten meiner israelischen Kolleginnen und Kollegen mit diesen Formulierungen gemein machen würden, war die Unterstützung für die Professorin groß. Aus ihrer Fakultät wie auch aus dem gesamten Lehrkörper. Gerade Universitäten, so die Überzeugung, müssten in Zeiten des Kriegs die Meinungspluralität verteidigen. Um mich herum gibt es viele Stimmen, die auch jetzt nicht der Versuchung der Einseitigkeit erliegen wollen, die hart und engagiert diskutieren. So ein Pochen auf Diversität und Inklusivität werden wir brauchen, gerade wenn bald frisch demobilisierte Studierende auf Palästinenserinnen und Palästinenser in den Seminarräumen treffen, alle mit Bildern des Schreckens im Kopf. Zum Zeitpunkt des Erscheinens dieser Ausgabe ging es für den Autor dieses Beitrags planmäßig zurück nach Israel – vorerst ohne seine Familie. Er fragt sich, welcher Ort Israel bei seiner Ankunft wohl sein wird. Der Blick vom menschenleeren Campus der Hebräischen Universität in Jerusalem auf das Westjordanlanddrei Tage nach dem Angriff der Hamas auf Israel.
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