Forschung & Lehre 12/2023

12|23 Forschung & Lehre 939 BÜCHER Lesenund lesen lassen Ohne Visionen Das um sich greifende Gefühl einer allgemeinen Unsicherheit in der Gesellschaft, des Bedrohlichen angesichts von Klimawandel und aufflammenden Konflikten ist Gegenstand einiger aktueller soziologischer Untersuchungen: Lebt der Mensch zusehends in einer ihm fremden Welt und zieht er sich aus dieser Haltlosigkeit immer mehr auf das eigene Selbst zurück? So wie der Philosoph Günter Anders bereits vor über fünfzig Jahren formulierte, dass wir Menschen ohne Welt seien, „die gezwungen sind, innerhalb einer Welt zu leben, die nicht die ihrige ist“? Alexandra Schauer nimmt in ihrer preisgekrönten Dissertation „Mensch ohne Welt“ diese Frage als Ausgangspunkt einer umfassenden und schonungslosen Analyse der Gegenwartsgesellschaft. Im Verständnis der Soziologie als Krisenwissenschaft, die die innere Zerrissenheit der Menschen im 21. Jahrhundert verständlich machen will, zeichnet sie in Kreisen die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse von den Anfängen der Vormoderne bis in die globalisierte Welt von heute nach. Ausgehend von Hannah Arendt, die Geschichte als „Tiefendimension“ menschlicher Erfahrung versteht, diagnostiziert Schauer ein wachsendes Gefühl der Haltlosigkeit in der heutigen Zeit. Nach Arendt sucht der Mensch Orientierung in dem, was er erlebt hat, um sich der Gegenwärtigkeit der eigenen Existenz zu versichern. Deutlich wird damit die Sehnsucht nach etwas, das Vergangenheit und Gegenwart verbindet. Dieses Band ist laut Schauer brüchig geworden, ein lineares Verständnis von Zeit und fester Verortung verloren gegangen angesichts derÖffnung und Aneignung der Zukunft als flexibel und selbst gestaltbar. Nach der Entstehung des Privaten beschreibt Schauer die Geburt der Öffentlichkeit, deren Wachsen zum entgrenzten Selbst führt, das versucht, zwischen Erschöpfung und Wut seine Mitte zu finden. In den Städten, die in ihrer Emanzipation ein Ort der Mitte waren, leben nach Schauers Beobachtung die Menschen immer mehr in Ballungsgebieten ohne Kern. Doch wie kann ein Leben für Menschen ohne Welt in Zukunft aussehen? Darüber versinkt man nach der Lektüre des Bandes in tiefes Nachdenken. Alexandra Schauer: Mensch ohne Welt. Eine Soziologie spätmoderner Vergesellschaftung Suhrkamp 2023, 34,- € Friederike Invernizzi Irgendwie anfangen Wer hätte nicht schon Dinge, die im Alltagsstress liegen geblieben sind, auf die Tage zwischen den Jahren verschoben, getragen von dem guten Vorsatz, im neuen Jahr alles zeitiger anzugehen. Von einem, der das Verschieben auf die Spitze treibt, erzählt Nele Pollatschek in ihrem neuen Roman. Es ist der 31. Dezember und Lars, der Protagonist des Romans, hat noch eine lange, eine viel zu lange Liste mit 13 To-Dos abzuarbeiten, zu denen unter anderem Putzen, Steuererklärung und Lebenswerk zählen. Dabei ist mit dem Lebenswerk nichts Geringeres gemeint als das Schreiben des „besten Buches der Welt“. Der Ich-Erzähler Lars ist gewillt, noch alles zu schaffen, und er weiß, „man muss nur irgendwie anfangen“. Doch der Tag ist angefüllt mit Bemühen und Scheitern, mit Erfolgen und Selbstzweifeln. Seine Gefühle schwanken zwischen „Phantomstolz“ und tiefer Traurigkeit. Nele Pollatschek zeichnet zwar überspitzt, aber sehr humorvoll und zugleich berührend das Bild eines Menschen, dessen Leben durch das Prokrastinieren aus den Fugen gerät. Wenn Lars über Mülltrennung, Motivation oder das Verhältnis zu seinen Kindern sinniert, kommen auch die großen Fragen über die Liebe und das Leben zur Sprache. Ein tragikomisches Buch für die Zeit zwischen den Jahren, das zum Verschieben anderer Dinge verführt, um weiterlesen zu können. Nele Pollatschek: Kleine Probleme. Galiani Berlin 2023, 23,- €. InaLohaus Mirjam Braßler / Simone Brandstädter / Sebastian Lerch (Hg.): Interdisziplinarität in der Hochschullehre wbv media 2023, 49,90 € Was interdisziplinäres Lernen für Lehrende und Studierende bedeutet, welche Herausforderungen und Chancen entstehen und welche Konsequenzen für das Denken und Handeln in Wissenschaft und Praxis sichtbar werden, sind Fragen, denen die Autoren des Sammelbandes im Hinblick auf neue Perspektiven für die Gestaltung und Organisation von Wissenschaft nachgehen. Lars P. Feld /Thomas M. J. Möllers (Hg.): Wohlstandssicherung durch freiwillige Längerbeschäftigung Verlag Mohr Siebeck 2023, 89,- € Wenn durch die demographische Entwicklung Arbeitskräfte fehlen und Renten- bzw. Pensionszahlungen nicht gesichert seien, gelte es, über eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit nachzudenken, zu der viele Professorinnen und Professoren bereit seien. Daher gehen die Autoren aus juristischer und ökonomischer Perspektive der Frage nach, wie diese freiwillige Längerbeschäftigung für Universitätsprofessoren künftig besser als bisher verwirklicht werden kann. Bernd Simeon: Die Macht der Computermodelle Quellen der Erkenntnis oder digitale Orakel? Springer Berlin Heidelberg 2023, 22,99 € Computermodelle seien im Begriff, omnipräsent zu werden und uns, im Verein mit KI, bei allen relevanten Entscheidungen zu unterstützen. Doch blindes Vertrauen beim Laien wie starre Modellgläubigkeit beim Experten könnten auch zu gravierenden Fehlentscheidungen führen. Der Autor beleuchtet die Bedeutung von Computermodellen und zeigt ihre Gefahren auf. BÜCHER ÜBER WISSENSCHAFT

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