31. Jahrgang | 7,50 $ www.forschung-und-lehre.de 4 | 24 Forschung & Lehre alles was die wissenschaft bewegt | ab Seite 248 Wissenschaftliche Karriere Der Wert einer Publikation | ab Seite 266 Ausgründungen Wissenschaft und Unternehmertum | ab Seite 272 Nobelpreis Das Leben als Forscher nach der Verleihung | ab Seite 264 Großer Akademischer Stellenmarkt | ab Seite 302
EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAR CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EAR EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAR CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EAR EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAR CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EAR EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAR CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EAR EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAR CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EAR EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAREER EARLY CAR CALL FOR PROPOSALS Paul Ehrlich & Ludwig Darmstaedter EARLY CAREER AWARD 2025 PAUL EHRLICH FOUNDATION The Paul Ehrlich Foundationannually awards this prize to ayoung independent postdoctoral scientist working in Germany for outstanding research in the field of life sciences. The Paul Ehrlich & Ludwig Darmstaedter Early Career Award is endowed with€60,000 to be used for research-related purposes. RECENT AWARD WINNERS AND THEIR RESEARCH TOPICS: 2024 Johannes Karges Remote-controlled and targeted activation of cytostatics 2023 Leif Ludwig A pioneering method for blood stem cell diagnostics 2022 Laura Hinze Pathways of resistance development in cancer cells 2021 Elvira Mass The role of macrophages in embryonic development 2020 Judith Reichmann Control of reduction division (meiosis) University professors and directors of research institutions in Germany are eligible to submit nominations. Self-applications will not be considered. Candidates should be under 40 years old at the time of the award ceremony (exceptions according to DFG rules) and not hold a tenured professorship or comparable position. Proposals are requested in English (in a single PDF) and via e-mail no later than Friday, April 26, 2024. The file should include a detailed justification, a list of publications highlighting the three most important papers, these three publications in full length, as well as the candidate’s curriculum vitae. Proposals are to be addressed to the Chairman of the Selection Committee: Prof. Dr. Robert Tampé, Institute for Biochemistry, Biocenter, Goethe University Frankfurt, Max-von-Laue-Str. 9, 60438 Frankfurt/M., paul-ehrlich-nachwuchspreis@uni-frankfurt.de Shortlisted candidates will be invited to a selection symposium in Frankfurt/M. on July 8, 2024. The award winner is nominated by the Scientific Council of the Paul Ehrlich Foundation upon recommendation of the Selection Committee. The award ceremony will take place in the historic Paulskirche, Frankfurt/M., a renowned symbol of Germany’s democracy, on March 14, 2025 – coinciding with Paul Ehrlich’s birthday. FOR MORE INFORMATION, PLEASE CONTACT: Sabine Walser, Phone: +49 69 798-17250, Email: paul-ehrlich-nachwuchspreis@uni-frankfurt.de WWW.UNI-FRANKFURT.DE/PAUL-EHRLICH-EARLY-CAREER-AWARD
4|24 Forschung & Lehre 241 STANDPUNKT Der p-Wert, eingeführt vor fast 100 Jahren von Ronald A. Fisher, ist zur wichtigsten und zugleich unverstandensten Kennzahl in den Lebenswissenschaften avanciert. Er kann dort über Publikation, Promotion und am Ende sogar Professur mitentscheiden. Denn nur wenn dieser Wert „signifikant“ ist, da ist man sich einig, hält man einen Befund für berichtenswert oder ein Studienergebnis für so relevant, dass es einer Veröffentlichung wert sei. Fatalerweise beruht aber all dies auf grundsätzlichem, folgenschwerem statistischen Unverständnis. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler denken nämlich, der p-Wert quantifiziere, wie wahrscheinlich es ist, dass ihre Hypothese richtig oder zwei Versuchsgruppen unterschiedlich sind. Insbesondere verwechseln viele den p-Wert mit dem Risiko, eine falsche Schlussfolgerung zu ziehen. Und nehmen an, dass ein signifikantes Ergebnis, wenn nämlich der p-Wert eine bestimmte Schwelle (häufig 0.05) unterschreitet, auch bedeutet, dass das Ergebnis bedeutsam ist. Auch die Vorstellung, dass Ergebnisse mit einem niedrigen p-Wert leicht in neuen Studien wiederholt werden können, ist weit verbreitet. Umgekehrt denken viele, dass ein p-Wert über einer Schwelle (ebenfalls häufig 0.05) bedeutet, dass es keinen Unterschied zwischen Versuchsgruppen gibt. All dies ist falsch. Nicht nur hat Fisher diese Schwelle absolut willkürlich bei fünf Prozent angesetzt. Wird sie unterschritten, so damals sein Rat, lohne es sich „genauer hin zu sehen“, nicht mehr, nicht weniger. Tatsächlich sagt der p-Wert nämlich nur aus, wie ungewöhnlich die Daten sind, wenn wir von einer grundlegenden Annahme ausgehen. Und da liegt auch schon der Kern des Problems, denn wir wissen doch gar nicht, wie wahrscheinlich diese Annahmen (zum Beispiel unsere Hypothesen) sind. Genau deshalb führen wir ja eine Studie durch. Ein Beispiel: Wenn die Wahrscheinlichkeit zehn Prozent wäre, dass unsere Hypothese stimmt, wir das allgegenwärtige fünf Prozent-Signifikanzniveau verwenden und unsere Teststärke einen tatsächlich vorhandenen Effekt in 80 Prozent der Fälle auch wirklich entdecken kann, sind fast 40 Prozent der statistisch signifikanten Ergebnisse (p<0.05!) falsch positiv! Und eben nicht weniger als fünf Prozent, wie die Mehrheit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler irrtümlich glaubt (weiterführendes Material siehe https://bit.ly/FundL_p-Wert). Wer dies hingegen verstanden hat und weiß, dass viele Studien Teststärken von 80 Prozent gar nicht erreichen, wird nicht nur seine eigenen Ergebnisse, sondern auch die gesamte (biomedizinische) Literatur viel kritischer interpretieren. Und den Titel eines der meistzitierten (und nie widerlegten) biomedizinischen Artikel verstehen: „Why most published research findings are false“. Ein signifikantes Problem Ulrich Dirnagl ist Professor für Klinische Neurowissenschaften und Gründungsdirektor des QUEST Center for Responsible Research, BIH, Charité – Universitätsmedizin Berlin. Foto: BIH-Thomas Rafalzyk
Forschung & Lehre 4|24 242 INHALT Inhalt Foto: mauritius images / Westen61 Verantwortung Publikationsdruck Verantwortung ist ein umfassender Begriff, der für den Menschen wesentlich ist. Was bedeutet es, verantwortlich zu sein? Wer kann Verantwortung übernehmen? Inwieweit setzt sie Handlungsfreiheit voraus? In der Wissenschaft spielt Verantwortung eine große Rolle. Von unterschiedlichen Seiten wird von Hochschulen und Wissenschaft gefordert, mehr Verantwortung zu übernehmen. Welche Verantwortung tragen Forschende in ihrem jeweiligen Fach? Was müssen sie insbesondere beim Umgang mit sicherheitsrelevanter Forschung beachten? Die Verantwortlichkeit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für die Richtigkeit und Integrität ihrer Arbeit ist auch in rechtlicher Hinsicht relevant. Schwerpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . .248 Für gute Karrierechancen spielen die Anzahl von Publikationen und deren Impact Factor eine entscheidende Rolle. Wie ließe sich der damit verbundene Druck insbesondere für Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler abbauen?. DerWerteinerPublikation . . . . . . . .266 STANDPUNKT Ulrich Dirnagl 241 Ein signifikantes Problem NACHRICHTEN 244 Freiheit der Wissenschaft global ungleich verteilt VERANTWORTUNG Ralf Stoecker 248 Spezifisch menschlich Verantwortung in der Philosophie Britta Siegmund | Johannes Fritsch 252 Schwierige Folgen- und Risikoabschätzung Selbstverwaltung der Wissenschaften im Spannungsfeld von Forschungsfreiheit und Forschungsverantwortung Mitchell Ash 256 Wessen Verantwortung wofür? Die Vielfalt der Forderungen an Wissenschaft und Hochschulen Klaus Ferdinand Gärditz 258 Schuld und Sanktion Eine rechtliche Perspektive auf Verantwortung in der Wissenschaft Umfrage 260 Was bedeutet Verantwortung? Stimmen aus der Wissenschaft NOBELPREIS Im Gespräch: Ferenc Krausz 264 „Ganz tief nachdenken“ Das Leben als Forscher nach der Nobelpreisverleihung WISSENSCHAFTLICHE KARRIERE Jan Ellinger | Stephan Ellinger 266 Der Wert einer Publikation Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler zwischen Ökonomie und Qualitätssicherung Foto: mauritius images / Pitopia
4|24 Forschung & Lehre 243 INHALT Foto: mauritius images / Alamy Lehre Ausgründungen Die Qualität der Lehre ist ein zentrales Exzellenzkriterium für Hochschulen. Mit Lehrpreisen sollen daher die Leistungen von Lehrenden an Hochschulen gewürdigt werden. Inwiefern haben diese auch eine Anreizwirkung zur Weiterentwicklung der Lehre? Erste Hinweise aus einer laufenden Studie. Anerkennungsformate . . . . . . . . . . .274 Karrierepraxis Auch in der Wisenschaft kann es passieren, dass Beschäftigte keine emotionale Bindung mehr zu ihrem Arbeitgeber zeigen. Dies geht meist mit einer negativ-destruktiven Haltung gegenüber der eigenen Institution einher. Was gilt es zu beachten? ZynismusamArbeitsplatz . . . . . . . .290 Welchen Einfluss haben Professorinnen und Professoren auf das Gründungsgeschehen? Wie hängt die individuelle Forschungsleistung mit der unternehmerischen Aktivität zusammen? Ergebnisse einer aktuellen Studie. TransferdurchGründung . . . . . . . . .272 WISSENSCHAFTSKOMMUNIKATION Im Gespräch: Julia Wandt 268 „Wir müssen dranbleiben .“ Forschende zwischen faktenbasierter Kommunikation und persönlichen Angriffen AUSGRÜNDUNGEN Andreas Kuckertz 272 Transfer durch Gründung Wissenschaft und Unternehmertum LEHRE Peter-Georg Albrecht 274 Lehrpreise einkoppeln? Zur Frage der Institutionalisierung von Anerkennungsformaten CHINA Im Gespräch: Philip Böing 276 Mehr China-Kompetenz notwendig Nutzen und Risiken der wissenschaftlichen Zusammenarbeit LÄNDERBERICHT Katharina Fleckenstein 280 Zwischen Reformen, Austerität und Zuversicht Hochschulen und Wissenschaft in Mexiko WISSENSCHAFTSGESCHICHTECord Friebe 282 Eingeschränkte Ansprüche Wie prägt Kant unser heutiges Verständnis von Wissenschaft? KARRIEREPRAXIS 290 Warum so negativ? Zynische Einstellungen von Beschäftigten RUBRIKEN 247 Fundsachen 284 Ergründet und entdeckt 286 Zustimmung und Widerspruch 280 Kleine Fächerkunde 288 Lesen und lesen lassen 292 Entscheidungen aus der Rechtsprechung 294 Preise 296 Habilitationen und Berufungen 297 Drei Fragen an: Frank Decker 298 Steuerrecht aktuell 300 Impressum 301 Leitungspositionen 302 Akademischer Stellenmarkt 318 Exkursion 319 Enigma 320 Am Ende optimistisch? – Klaus Kümmerer Foto: mauritius images / IkonImagesRF
Forschung & Lehre 4|24 244 NACHRICHTEN Täglich aktuelle Nachrichten auf www.forschung-und-lehre.de Freiheit der Wissenschaft global ungleich verteilt Die Friedrich-Alexander-Universität (FAU) Erlangen-Nürnberg und die Universität Göteborg haben den diesjährigen Index der Wissenschaftsfreiheit (Academic Freedom Index, AFI) veröffentlicht. Der Bericht zeigt, dass die Wissenschaftsfreiheit durch das rechtliche Rahmenwerk, die Wissenschaftspolitik und die Reaktionen Forschender beeinflusst werden kann. Sie ist vor allem in Ländern mit starker gesellschaftlicher und politischer Polarisierung gefährdet und geht dort zurück. Dazu gehörten Russland, Ungarn, Indien, El Salvador, Hongkong und Venezuela. In Brasilien, Montenegro, Nordmazedonien und Thailand habe die Wissenschaftsfreiheit trotz Polarisierung dagegen zugenommen. Der AFI-Index kummuliert Daten von über 2 300 Expertinnen und Experten weltweit zu fünf Indikatoren: Freiheit der Forschung und Lehre, Freiheit des akademischen Austauschs und der Wissenschaftskommunikation, akademische und kulturelle Ausdrucksfreiheit, die institutionelle Autonomie, sowie Campus-Integrität. Der AFI erfasst rund 180 Länder und zeigt, dass Wissenschaftsfreiheit für fast die Hälfte der Weltbevölkerung (45 Prozent) keine Realität ist. Bei elf Prozent der Bevölkerung ist die Wissenschaftsfreiheit stark und bei weiteren acht Prozent etwas eingeschränkt. Nur 14 Prozent können auf absolute Wissenschaftsfreiheit bauen und 21 Prozent einigermaßen. Trotz negativer Gesamtbilanz habe sich die Wissenschaftsfreiheit in 56 Ländern verbessert und in 61 Ländern ein hohes Maß erreicht. In zehn Ländern habe die Wissenschaftsfreiheit im Jahr 2023 sogar anhaltend zugenommen. Laut FAU „eine positive Entwicklung, die zuletzt vor mehr als zwanzig Jahren eintrat.“ Deutschland zählt zusammen mit Schweden, Finnland, Italien, Spanien, Portugal, Costa Rica, Chile, Zypern, Barbados, Jamaica, Slowenien, Luxembourg, Honduras und Barbados zu den Ländern mit den höchsten AFI-Werten. Den allerhöchsten Wert hat laut Bericht Tschechien, gefolgt von Estland und Belgien. In 23 Ländern habe sich die Wissenschaftsfreiheit jedoch verschlechtert, in zehn davon maßgeblich. Dazu gehören auch Demokratien wie etwa die USA als bedeutender Wissenschaftsstandort. Weitere Länder aus dieser Gruppe sind Bangladesch, Indien und die Türkei. Schlusslichter insgesamt beim AFI bilden Nordkorea, Eritrea, Myanmar und Belarus sowie Saudi-Arabien, China, Vereinigte Arabische Emirate und der Iran. EFI empfiehlt Dual-Use und KI-Forschung zu stärken Die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) hat Anfang März ihren diesjährigen Jahresbericht veröffentlicht. Erstmals wurde er 2008 verfasst. Im Fokus auf den knapp 200 Berichtsseiten der sechsköpfigen Kommission stehen Künstliche Intelligenz (KI), soziale Innovationen, internationale Mobilität im Wissenschafts- und Innovationssystem und neue Technologien für eine nachhaltige Landwirtschaft. Die aktuelle Forschungs- und Innovationspolitik der Bundesregierung geht laut EFI-Gutachten in die richtige Richtung. „Es freut mich sehr, dass die EFI viele unserer Maßnahmen positiv bewertet“, sagt Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger. Ihr sei aber auch bewusst, dass „die Herausforderungen um uns herum nicht kleiner werden“. Kritik gab es etwa für die Bürokratie in der Wissenschaft sowie für Schwächen im Datenschutz, die den Fortschritt in der Forschung beeinträchtigten und der Anwendung von gewonnenen Erkenntnissen entgegenstünden. Auch im Bereich der KI hätten Deutschland und die EU massiven Aufholbedarf gegenüber China und den USA. Folglich sollte KI-Grundlagenforschung unterstützt, Rechenkapazitäten geschaffen und Datengrundlagen verbessert sowie die Verbreitung von Open-Source-KI gefördert werden. (Kurz nach dem EFIGutachten verabschiedete das EU-Parlament ein KI-Gesetz, das in dieser Form als weltweit einmalig gilt. Es zielt darauf ab, die Nutzung von KI sicher, transparent und diskriminierungsfrei zu gestalten und wird mit diesen Zielen positiv wie kritisch bewertet.) Ein weiteres Kernthema des EFI-Gutachtens sind neue Technologien für eine nachhaltige Landwirtschaft. Die Experten-Kommission empfiehlt der Bundesregierung „dem Vorschlag der EU-Kommission zur differenzierten Regulierung von genomeditierten Pflanzen zuzustimmen“ und sich „bei der EU für eine vom gentechnischen Verfahren unabhängige Regulierung der Grünen Gentechnik einzusetzen.“ Die Kernthemen Internationale Mobilität im Wissenschafts- und Innovationssystem bewertet das Gremium positiv: „Deutschland ist zum Nettoempfängerland für publizierende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geworden“, so der EFI-Bericht. Das Gremium fordert wie schon im vergangenen Jahr zudem, die Trennung zwischen militärischer und ziviler Forschung und Entwicklung aufzulösen. Damit könnten sogenannte Spillover-Effekte ausgelöst und ein Dual Use gefördert werden, heißt es im Gutachten. „Sonst vergibt Deutschland ökonomische Chancen“, sagte der EFI-Vorsitzende Uwe Cantner. Nachrichten
4|24 Forschung & Lehre 245 NACHRICHTEN Täglich aktuelle Nachrichten auf www.forschung-und-lehre .de Wissenschaftsbarometer 2023 Ein Großteil der befristet beschäftigten Postdocs erwägt ernsthaft einen Ausstieg aus der Wissenschaft, bedingt durch eine hohe Arbeitsbelastung und unzureichende berufliche Perspektiven. Konkret sind es 71 Prozent, wie aus dem Barometer der Wissenschaft 2023 hervorgeht, das einen detaillierten Einblick in die Arbeits- und Forschungsbedingungen an deutschen Universitäten und Hochschulen bietet. 11 371 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nahmen an der vom Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung durchgeführten Wissenschaftsbefragung im Jahr 2023 teil. Die Mehrheit der Promovierenden bevorzugt demnach eine Karriere in der Wissenschaft, jedoch streben nur noch 16 Prozent der Promovierenden eine Professur an. Trotz einiger Verbesserungen in den letzten Jahren bleibe die Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses jedoch weiterhin herausfordernd. Neben der unzureichenden Betreuung und den eingeschränkten Karriereperspektiven würden vor allem die nicht wettbewerbsfähigen Einkommensmöglichkeiten als Problemfelder identifiziert. Die Schwierigkeiten bei der Stellenbesetzung im Mittelbau nähmen zu. Das Barometer der Wissenschaft offenbart eine Vielzahl an Erkenntnissen, die auf substanzielle Unterschiede innerhalb verschiedener Fächergruppen und akademischer Statusgruppen hinweist. So wiesen Professorinnen und Professoren die höchste berufliche Zufriedenheit auf, während Juniorprofessorinnen und -professoren im Vergleich dazu deutlich häufiger unzufrieden sind. Generell sei die berufliche Zufriedenheit an deutschen Hochschulen recht hoch, wobei Professorinnen und Professoren in den meisten Bereichen laut Studie deutlich zufriedener sind als ihre nicht-professoralen Kolleginnen und Kollegen. In Professuren und Juniorprofessuren Beschäftigte arbeiteten zwar im Durchschnitt mehr Stunden, hätten aber faktisch weniger Forschungszeit zum Publizieren. Trotzdem seien sie publikationsstärker und stärker in die Drittmittelakquise und Gremienarbeit eingebunden als Postdocs und Prädocs. Aus der Studie geht auch hervor, dass trotz innerer und äußerer Herausforderungen die Befragten die Autonomie und Forschungsfreiheit an deutschen Hochschulen weiterhin positiv bewerten. Allerdings werde die Wertschätzung durch die Gesellschaft und die Leistungsgerechtigkeit im Wissenschaftssystem negativ beurteilt. Einigung zum WissZeitVG undTarif-Initiative in Hessen Die Bundesregierung hat eine Einigung über neue Regeln für befristete Arbeitsverträge an Hochschulen bekannt gegeben. Nach der Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) dürfen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Postdoc-Phase nach ihrer Promotion künftig nur noch vier statt sechs Jahre befristet beschäftigt werden. Weitere zwei Jahre sind nur mit einer verbindlichen Anschlusszusage erlaubt. Die Novelle muss jedoch erst noch das parlamentarische Verfahren durchlaufen. Die Hochschulrektorenkonferenz hatte vorab in Frage gestellt, dass die geplante Gesetzesnovelle wie vom Ministerium beabsichtigt zu einem Zuwachs an unbefristeten Stellen führen könnte: „Mehr unbefristete Stellen erfordern in erster Linie mehr dauerhafte Mittel für die Grundfinanzierung der Hochschulen“. Das Bundesland Hessen kündigte kürzlich entsprechende Zusagen an. In den Verhandlungen über die Anschlussregelungen an den im Januar 2024 ausgelaufenen Tarifvertrag hat sich das Land laut eigenen Angaben dazu verpflichtet, die Zahl an unbefristeten Beschäftigungsverhältnissen von wissenschaftlich Beschäftigten auf mindestens 1 850 Stellen (Vollzeitäquivalente) auszubauen. Das Ziel bezeichnete Wissenschaftsminister Timon Gremmels in einer Pressemitteilung des Landes als einen „guten Kompromiss“, um die Arbeitsbedingungen an den Hochschulen zu verbessern. Auch stärke der Beschluss die Autonomie der Hochschulen. Die finanziellen Zusagen für den Ausbau der Stellen müssen laut Mitteilung noch in den Verhandlungen zur nächsten Laufzeit des Hessischen Hochschulpakts festgehalten werden. Der aktuelle Pakt läuft bis 2025. In den Verhandlungen sei auch zu definieren, wer von einer Entfristung profitieren könne und zu welchem Zeitpunkt in der wissenschaftlichen Laufbahn über eine Entfristung entschieden werde. Details dazu sollen an den Hochschulen festgelegt werden. KOMMENTAR Zukunftssicherung Immer mehr junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Deutschland erwägen einen Ausstieg aus der Wissenschaft. Kettenbefristungen, eine hohe Arbeitsbelastung und fehlende Karriereperspektiven lassen in Zeiten des Fachkräftemangels den Arbeitsplatz Hochschule zunehmend unattraktiv erscheinen, eine Entwicklung, der dringend etwas entgegengesetzt werden muss – aus Wertschätzung gegenüber individueller Leistung sowie im Interesse einer hohen Qualität von Forschung und Lehre. Prädocs und Postdocs sind die Zukunft des Wissenschaftssystems. Sie formen die Wissenschaft von morgen mit. Nicht alle wollen und nicht alle werden langfristig in der Wissenschaft arbeiten können. Erforderlich sind institutionalisierte, frühzeitige und klare Gespräche über Perspektiven an der Hochschule sowie der entschlossene Ausbau planbarer Karrierewege für diejenigen, die gewonnen werden sollen. Wissenschaftliche Neugier und die Leidenschaft, Erkenntnissen an andere zu vermitteln, verdienen Honorierung. Insbesondere die Bundesländer müssen hinreichend finanzielle Mittel bereitstellen, damit verlässliche Karrierepfade auch entstehen können. Es ist eine Investition, die sich auszahlt – nicht nur für die Wissenschaft, sondern für die Gesellschaft insgesamt. Katrin Schmermund
Forschung & Lehre 4|24 246 NACHRICHTEN Täglich aktuelle Nachrichten auf www.forschung-und-lehre.de Diskussionen über Exmatrikulationsgesetz Der Berliner Senat plant ein Gesetz zur Ermöglichung der Exmatrikulation von Studierenden nach schweren Ordnungsverstößen. Dieser Entwurf stößt jedoch auf Kritik seitens der Hochschulleitungen, die Nachbesserungen fordern. Das Gesetz soll Hochschulen mehr Handhabungsmöglichkeiten geben, um Fehlverhalten zu ahnden, darunter temporäre Ausschlüsse von Lehrveranstaltungen und die Androhung sowie Aussprache von Exmatrikulationen. Trotz grundsätzlicher Zustimmung zum Gesetzesentwurf beanstanden die Hochschulen die unklare personelle Zusammensetzung des zuständigen Ordnungsausschusses und plädieren für präzisere Verfahrensregelungen. Die Diskussion über das Gesetz findet vor dem Hintergrund unsicherer Finanzierungszusagen seitens des Senats statt, was zusätzliche Unruhe in der Berliner Hochschulszene auslöst. Auch der Brandenburger Landtag stimmte für eine Novelle des Hochschulgesetzes. Vorsätzliche Gewalttaten auch außerhalb des Hochschulgeländes können laut Beschluss nun mit Ordnungsmaßnahmen bis hin zur Exmatrikulation belegt werden, wenn eine konkrete Gefahr des Studienbetriebs zu erwarten ist. Eine Exmatrikulation setzt eine rechtskräftige Verurteilung voraus. Wissenschaftsministerin Manja Schüle wies im Rahmen der Landtagsabstimmung darauf hin, dass diese Regelung auch eine Reaktion auf eine mutmaßliche Vergewaltigung einer Studentin der Universität Potsdam außerhalb der Uni sei. Rechtsstreit wegenTierversuchen Die Universität Bremen zieht im Streit um Tierversuche vor das Bundesverfassungsgericht. Die Klage richtet sich nach Angaben der Uni gegen Teile des neuen Hochschulgesetzes von Anfang 2023, mit dem Bremens Regierung Tierversuche stark einschränkt. Die Universität kritisiert, dass sie auf eigens für die Lehre getötete Tiere verzichten soll. „Die Vorschrift geht über das Bundesrecht hinaus“, teilte eine Sprecherin der Universität mit. Das deutsche Tierschutzrecht lasse das Töten von Tieren für die Forschung zu. Die Hochschule klagt auch dagegen, dass sie eine externe Kommission bilden soll, die die Tierversuche begutachtet und Empfehlungen ausspricht. Damit werde die Wissenschaftsfreiheit eingeschränkt, so die Argumentation der Uni. Schon seit Jahren wird in Bremen vor allem über Affenversuche des Hirnforschers Andreas Kreiter gestritten, über die auch „Forschung & Lehre“ wiederholt berichtete. Der Senat hatte die Fortsetzung der umstrittenen Experimente an der Universität abgelehnt. Kreitner wehrt sich dagegen vor dem Bremer Verwaltungsgericht. Stärkere Venetzung mit Großbritannien Bettina Stark-Watzinger setzt auf rasche Verhandlungsergebnisse über Erleichterungen im Wissenschaftsaustausch mit Großbritannien. Visa und bürokratische Anforderungen seien eine starke Belastung für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. sowie Studierende, sagte sie laut Deutscher Presse-Agentur. Die Wisssenschaftsministerin forderte mehr Planbarkeit. Gespräche mit London liefen, es blieben aber Hürden. In London hatte Stark-Watzinger gemeinsam mit ihrer britischen Kollegin Michelle Donelan den deutsch-britischen Forschungsdialog eröffnet. Im Fokus steht die Kooperation bei lebensverändernden Schlüsseltechnologien. Stark-Watzinger begrüßte in diesem Zusammenhang die Rückkehr Großbritanniens in das milliardenschwere EU-Forschungsprogramm „Horizon Europe“. BAföG-Novelle Das Bundeskabinett hat einen Gesetzentwurf zur BAföG-Reform verabschiedet, der unter anderem ein Startgeld von 1 000 Euro für bedürftige Erstsemester vorsieht. Dieses soll für die Anschaffung von Laptops, Lehrbüchern oder für Umzugskosten zum Studienort verwendet werden können. Kritik entzündet sich vor allem an den unveränderten BAföG-Regelsätzen. Zudem werden die Rückzahlungsanforderungen erhöht. Während einige Politikerinnen und Politiker sowie Studierendenvertretungen eine Anpassung der Bedarfssätze fordern, betont das Bildungsministerium die geplanten Verbesserungen in der Studienfinanzierung. Studie sieht Archivierung in Gefahr Eine Studie der University of London wirft ein besorgniserregendes Licht auf die digitale Langzeitarchivierung von wissenschaftlichen Publikationen. Demnach sei die Erhaltung von digitalen Inhalten über die digitale Objektidentifizierung (DOI) weniger zuverlässig als erhofft. Insbesondere die Verfügbarkeit und Auffindbarkeit der Artikel seien mangelhaft. Die Analyse, veröffentlicht im „Journal of Librarianship and Scholarly Communication“, zeigt, dass nur ein geringer Prozentsatz der publizierenden Forschenden eine ausreichende digitale Langzeitarchivierung praktiziert. Von den fast 7,5 Millionen untersuchten Werken verfügen viele nicht über eine angemessene Erhaltungskopie, obwohl sie einen aktiven DOI haben. Die Studie unterstreicht die Dringlichkeit von Maßnahmen zur Verbesserung der digitalen Langzeitarchivierung, um die Verfügbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse für zukünftige Generationen zu gewährleisten. Urteil zum Einsatz von ChatGPT Die Technische Universität München (TUM) wirft einem Studenten laut Medienberichten vor, in seinem Bewerbungsessay auf einen Masterstudienplatz auf die Hilfe von künstlicher Intelligenz (KI) zurückgegriffen zu haben. Da der Einsatz von KI der Zuhilfenahme Dritter gleichkomme, sei er vom Bewerbungsverfahren ausgeschlossen worden. Eine Klage des Studenten gegen diese Entscheidung hatte das Verwaltungsgericht München in einem Eilverfahren abgelehnt. Seinen Text hatte er laut einer Prüfungssoftware zu 45 Prozent mit KI erstellt.
4|24 Forschung & Lehre 247 FUNDSACHEN Verpflichtung „Ich hielte es für falsch, Quoten für Gruppen mit bestimmten Merkmalen einzuführen. Der Mensch ist doch nicht zuerst dadurch bestimmt, in welche Kategorie man ihn einordnen kann. Nichtsdestotrotz entbindet uns das nicht von der Verpflichtung, uns damit auseinanderzusetzen, welche Verzerrungen und Diskriminierungen es gibt und was man tun muss, um sie zu überwinden.“ Bettina Stark-Watzinger, Bundesforschungsministerin auf die Frage, ob man die Förderung in der Wissenschaft über Frauen hinaus auf andere Gruppen ausdehnen sollte; zitiert nach Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. März 2024. Streber „Es ist wie bei anderen Beispielen für das Canceln: Sie sind von einer solchen Dummheit, dass es wehtut. Der Name des größten deutschsprachigen Kinderbuchautors [Otfried Preußler FI], er soll nicht mehr zu einer Schule passen. Und Jim Knopf, ein Buch gegen Rassismus durch und durch, wird in Text und Bild so lange nachbearbeitet, bis man glaubt, keinen Vorwurf aus der Abteilung des „sensitivity reading“ fürchten zu müssen. Den Nachweis, dass die um Worte (...) bereinigten Ausgaben zu mehr Toleranz, weniger Vorurteilen und weniger Verletzungen führen, erspart man sich. Hauptsache, die Erwachsenen haben ein gutes Gewissen. Otfried Preußlers und Michael Endes Ruhm wird es überleben. Man wird ihre Bücher noch lesen, wenn kaum einer mehr weiß, wer seine Gegner waren: lachhafte Reinigungskräfte, altkluge Kinder ihrer faden Zeit. Das Schulwort dafür ist: Streber.“ Jürgen Kaube; zitiert nach Frankfurter Allgemeine Zeitung, vom 26. Februar 2024. Schwarzweiß „Hinter dem Streit um die Gender-Sonderzeichen im Wortinneren verbirgt sich eine tiefgreifende gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Auseinandersetzung, in der beide Seiten mit Unterstellungen arbeiten. Wer die Sonderzeichen nutzt, wird von deren erbitterten Gegnern als links und entrückt vom wahren Empfinden der Bevölkerung gebrandmarkt. Wer sie nicht nutzen will, gilt unter uneingeschränkten Befürwortern als konservativ und rückständig, als würde er oder sie automatisch Frauen und nichtbinäre Personen missachten. Beide Seiten malen schwarzweiß und sind sich dabei mitunter sehr ähnlich. Ich rate insgesamt zu mehr Gelassenheit. “ Dr. Josef Lange, Vorsitzender des Hochschulrats der Universität Vechta und des Rats für deutsche Rechtschreibung; zitert nach Wiarda-Blog vom 6. März 2024. Hochkonjunktur „Dummheit hat Hochkonjunktur! Es erstaunt mich immer wieder, in wie vielen Bereichen sich Menschen Wissen und Fähigkeiten zuschreiben, die sie gar nicht haben. Wenn die Waschmaschine kaputt ist, holt man mit größter Selbstverständlichkeit einen Fachmann. Aber bei deutlich komplexeren Themen sprudeln manche Leute nur so von Gewissheiten. Eine beliebte Spielwiese ist die Medizin, wo es heute von selbsternannten Fachleuten nur so wimmelt. Da werden gänzlich kenntnisfreie, „gefühlte“ Empfehlungen an den Mann und die Frau gebracht. Der Schriftsteller Charles Bukowski soll es so formuliert haben: „Das Problem ist, dass intelligente Menschen voller Zweifel sind, während die dummen voller Vertrauen sind.“ Die Dummheit hat aufgehört, sich zu schämen.“ Heidi Kastner, Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie, Chefärztin der forensischen Abteilung des Kepler-Universitätsklinikums in Linz, Gerichtspsychiaterin; zitiert nach Süddeutsche Zeitung, vor drei Jahren erschienen am 16. November 2021. Mission „Wir müssten viel mehr tun. Es braucht mehr Missionsorientierung – und zwar kooperativ gedacht, in der Gemeinschaft von Bund und Ländern. Eine Zeitenwende bedeutet ja nicht nur mehr Geld, sondern vor allem bedeutet sie mehr Fokus – und eine bessere Koordination zwischen Bund und Ländern und den unterschiedlichen beteiligten Ressorts.“ Markus Blume, bayerischer Wissenschaftsminister; zitiert nach Wiarda-Blog vom 6. März 2024. Fundsachen Versuch „Alles Gescheite ist schon gedacht worden, man muss nur versuchen, es noch einmal zu denken.“ Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832) NimmZwei „Ich saß mal mit zwei Kolleginnen im Harvard Faculty Club zum Lunch, einen elitäreren Ort kann man sich nicht vorstellen. Es ging um Karriere und Frauen. Da wurde mir Folgendes klar. Es gibt drei Dinge: Karriere, Ehe, Kinder. An diesen drei Biografien konnte man es genau ablesen: Man kriegt höchstens zwei von drei. Wenn es die Karriere gab, fielen entweder die Kinder weg oder die Ehe zerbrach oder andersrum.“ Aleida Assmann, Professorin i.R. für Englische Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft; zitiert nach: Süddeutsche Zeitung vom 22. Dezember 2022.
Foto: mauritius images/Westend61 Spezifisch menschlich Verantwortung in der Philosophie
4|24 Forschung & Lehre 249 VERANTWORTUNG Angesichts der philosophischen Bedeutung der Verantwortung ist es erstaunlich, dass das Wort „Verantwortung“ philosophiehistorisch vergleichsweise jung ist. Erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts hat es etablierte Ausdrücke wie „Zurechnung“, „Schuld“ und „Pflicht“ ersetzt oder ergänzt. Es ist eine spannende Frage, inwieweit dieser terminologische Wechsel mit einer sachlichen Veränderung einherging. Jedenfalls war das Wort „Verantwortung“ damals im allgemeinen Sprachgebrauch seinen etymologischen Wurzeln noch deutlich näher als heute. Wer etwas „verantwortete“, stand in der Regel Rede und Antwort für etwas, was er getan hatte, beispielsweise vor Gericht. Wenn also anstatt von der bloßen „Zurechnung“ von „Verantwortung“ die Rede war, dann ging der Blick offenkundig weg von der bloßen Handlung und ihren Folgen und hin zu den Gründen und Überlegungen hinter der Handlung sowie zu der damit verbundenen sozialen Praxis, Handlungen mit anderen Menschen zu beratschlagen und ihnen gegenüber zu rechtfertigen. Das Verhältnis von Handlungsgründen und Handlungen und die möglichen Reaktionen, die sie hervorrufen, spielen heute eine zentrale Rolle für viele philosophische Themen rund um Verantwortlichkeit. Was heißt es, verantwortlich zu sein? Auch wenn Verantwortung ein wichtiges Element des spezifisch menschlichen Zusammenlebens ist, verwenden wir diesen Begriff ganz selbstverständlich sehr viel breiter. Dass X verantwortlich ist, heißt häufig nicht mehr als: Etwas liegt an X, X ist seine Ursache, X erklärt es. Interessant an dieser breiten Verwendung ist, dass auch die spezifisch menschliche Verantwortung, um die es in der Philosophie ausschließlich geht, in ihrem Kern kausal ist. Wir sind nur dann für etwas verantwortlich, wenn wir es irgendwie beeinflussen, beeinflusst haben oder zumindest beeinflussen können. Was die menschliche Verantwortung allerdings so besonders macht, ist die Art dieser Beeinflussung. Verantwortung ist eng an unsere Handlungsfähigkeit gekoppelt. Handeln bedeutet grob gesprochen, in die Welt entsprechend unseren Absichten, Überzeugungen, Vorlieben, Pläne, Entschlüssen einzugreifen. Handlungen und ihre Folgen sind wiederum der Gegenstand von spezifischen Werturteilen. Nur Handlungen (und teilweise auch die handelnden Personen selbst) können klug oder unklug, moralisch gut oder böse, rechtlich erlaubt oder verboten sein. Der Begriff der Verantwortung steht für diese Verbindung: Verantwortlich sind wir grundsätzlich für etwas, was wir durch unser Handeln in der Welt bewirken, und das deshalb an bestimmten Wertmaßstäben gemessen werden kann. Da hier unterschiedliche Maßstäbe in Frage kommen können (jemand kann zum Beispiel moralisch, aber nicht rechtlich für etwas verantwortlich sein), wird Verantwortung häufig als dreistellige Relation aufgefasst: Eine Person ist für eine Handlung beziehungsweise Handlungsfolge hinsichtlich eines Wertmaßstabs verantwortlich. Handlungsbewertungen können prinzipiell sowohl negativ als auch positiv sein. In der Regel interessieren wir uns aber eher für die negative Verantwortung. Wir suchen nach Verantwortlichen, wenn etwas schiefläuft. In der Moralphilosophie ist dies die Voraussetzung für Schuld. Können wir überhaupt Verantwortung haben? Woran können Menschen schuld sein? Die naheliegende Antwort lautet: eben an ihren Handlungen und deren Folgen. Schon seit der Antike wird aber bezweifelt, dass diese Antwort ausreicht. Was hinzukommen müsse, so beispielsweise Aristoteles im dritten Buch der „Nikomachischen Ethik“, ist die Freiwilligkeit der Handlung. Damit ist eines der prominentesten philosophischen Probleme im Zusammenhang mit der Verantwortung angesprochen, ihre Beziehung zur Freiheit. Während es bei Aristoteles noch darum ging, die Grenzen der Freiwilligkeit aufzuklären (zum Beispiel welche Rollen Unwissenheit oder „Sachzwänge“ spielen), verlagerte sich die philosophische Aufmerksamkeit bald auf die grundsätzliche Frage, ob Menschen jemals frei genug in ihrem Handeln sind, um Verantwortung zu haben. Sind wir nicht alle, so die Herausforderung, in unserem Handeln vorherbestimmt, sodass wir gar nicht anders handeln können, als wir es faktisch tun? Und ist es dann nicht falsch und ungerecht, uns trotzdem für unsere Handlungen verantwortlich zu machen? Ursprünglich gründete diese Überlegung in der Unerbittlichkeit des Schicksals oder der Allmacht Gottes, heute wird es in der Regel als Konflikt zwischen Freiheit und naturgesetzlicher Determination des Menschen diskutiert. Die Debatte dieses sogenannten „Freiheitsproblems“ ist uferlos, mit zahllosen Verästelungen, aber ganz grob kann man drei Antwortmöglichkeiten unterscheiden: Entweder man bestreitet die naturgesetzliche Eingebundenheit des Menschen (Indeterminismus) oder man bestreitet seine Freiheit und damit seine Verantwortlichkeit (harter Determinismus) oder man bestreitet, dass sich Freiheit und Determiniertheit ausschließen (Kompatibilismus). Auch wenn es heute Vertreterinnen und Vertreter aller drei Spielarten gibt und gerade im Kontext der modernen Hirnforschung in den letzten Jahren versucht wurde, den harten Determinismus stark zu machen, ist die dritte Position bei weitem die plausibelste. Die Frage ist nur, wie sich Freiheit und Verantwortung damit vertragen, dass wir alle ein Teil der naturgesetzlich ablaufenden Welt sind. Ein möglicher Ansatz, den beispielsweise David Hume verfolgt hat, besteht darin, Verantwortung einfach daran zu koppeln, dass Handelnde tun, was sie tun möchten, auch wenn sie wiederum in dem, was sie möchten, determiniert sind. Anderen war diese „Freiheit eines Bratenwenders“, wie Immanuel Kant sie bezeichnet hat, zu mager für Verantwort- | RALF STOECKER | Für Menschen ist es wesentlich, Verantwortung zu haben . Der Begriff der Verantwortung verbindet unsere Fähigkeit, als Handelnde Einfluss auf dieWelt um uns herum zu nehmen, mit unserer sozialen Praxis, uns gemeinsam über Gründe auszutauschen und unser Tun wechselseitig zu bewerten . Das macht ihn zu einem zentralen Begriff der praktischen Philosophie . Ralf Stoecker ist Seniorprofessor für Praktische Philosophie an der Universität Bielefeld. Foto: Daniel Stoecker
Forschung & Lehre 4|24 250 VERANTWORTUNG »Wir können auch für Folgen verantwortlich sein, die wir weder beabsichtigen noch vorhersehen.« lichkeit. Sie haben deshalb versucht, die Bedingungen zu verschärfen, von der bloßen Handlungsfreiheit hin zur Willensfreiheit, bei der die Verantwortlichkeit an komplexere Voraussetzungen gebunden ist als bloß an Wünsche. All diese Versuche stehen aber vor dem grundsätzlichen Problem, dass sie an irgendeiner Stelle der Handlungsgenese einen Freiraum konstatieren, der sofort in Widerspruch zum naturgesetzlichen Determinismus zu geraten droht. Angesichts der philosophischen Schwierigkeiten, das Freiheitsproblem befriedigend zu lösen, liegt der Gedanke nahe, dass vielleicht viel zu hohe Ansprüche an die Verantwortung gestellt werden. Dies führt unmittelbar weiter zu der Frage, was überhaupt aus Verantwortlichkeit folgt. Was bedeutet es für eine Person, verantwortlich zu sein? Bislang sind schon verschiedene Antworten angeklungen. Wer verantwortlich ist, von denen kann man erwarten, dass sie Rede und Antwort über ihre Handlungsgründe stehen. Wer verantwortlich ist, kann mit Recht bewertet werden, hat sich verdient gemacht oder ist schuldig, ist lobenswert oder tadelnswert. Und dies wiederum macht unter Umständen weitere Reaktionen angemessen: Belohnung oder Strafe, Wertschätzung und Dankbarkeit oder Vorwürfe und Verachtung. Als Ausweg aus dem Freiheitsproblem wird deshalb manchmal versucht zu zeigen, dass diese sozialen Praktiken begründet und sinnvoll sind, auch ohne dass zuvor das philosophische Grundsatzproblem gelöst wäre. Wofür sind wir verantwortlich? Lässt man die philosophischen Zweifel beiseite, ob wir überhaupt für irgendetwas verantwortlich sein können, dann stellt sich immer noch die Frage, wofür wir verantwortlich sind und wofür nicht. Die naheliegende Antwort wurde schon angesprochen: für unsere Handlungen und deren Folgen. Ein Problem für diese Antwort ist allerdings die prinzipielle Unabsehbarkeit der Folgen. Einerseits können wir auch für Folgen verantwortlich sein, die wir weder beabsichtigen noch vorhersehen. (Manches hätten wir halt in Betracht ziehen sollen.) Andererseits gibt es Grenzen dessen, was wir überblicken können und müssen. Wo diese liegen, ist schwierig generell zu beantworten, aber zwei Aspekte spielen dabei eine wichtige Rolle: wie positiv oder negativ eine Folge wäre und wie wahrscheinlich es ist, dass sie eintritt. Für das Verständnis der Veränderungen in der philosophischen Bedeutung der Verantwortung sind diese beiden Aspekte besonders wichtig, weil es in beiden Hinsichten seit dem 19. Jahrhundert eine dramatische Entwicklung gegeben hat. Wir Menschen haben unsere Handlungsfähigkeiten seitdem immens erweitert, sowohl was die Einflussmöglichkeiten als auch die Absehbarkeit der Folgen angeht. Wir besitzen Waffen, die auf einen Schlag die Erde vernichten können; unsere biologischen und medizinischen Fertigkeiten erlauben die Bekämpfung vieler Krankheiten, ermöglichen allerdings auch weitgehende Eingriffe in die basalen Strukturen des Menschen und der Natur; die globale Wirtschaft und die Politik bestimmen, wohin die Ressourcen der Welt fließen, wo welche Menschen leben können und wie sich das Klima entwickelt; die Entwicklung der Medien und letztlich des Internets verändert grundsätzlich die Grenzen des Wissens jedes einzelnen Menschen sowie unsere Vorstellungen von Nähe und Distanz insgesamt; Künstliche Intelligenz übernimmt immer weiterreichende Regelungsaufgaben und so weiter. Schon Mitte des 20. Jahrhunderts hat deswegen der Philosoph Hans Jonas für das „Prinzip Verantwortung“ geworben, für eine Verschiebung der Verantwortung von der bloßen Verantwortung für eigenes Handeln hin zu einer Verantwortung aller Menschen für die Fortexistenz unseres Planeten. Die Entwicklung bis heute hat zweifellos gezeigt, wie wichtig diese Mahnungen von Jonas und seinen Zeitgenossen waren. Aus Sicht der Philosophie der Verantwortung kommt hier aber ein neues Element ins Spiel, das bislang noch nicht erwähnt wurde, die Verantwortung für Verantwortungsbereiche. Auch das ist eine durchaus vertraute Form der Verantwortung. Beinahe jeder Mensch ist in einer ganzen Reihe von Bereichen verantwortlich für das, was dort geschieht oder nicht geschieht, unabhängig davon, ob er es selbst getan hat. Oder besser gesagt: Alles, was dort geschieht, zählt insofern zu seinen Handlungen, als er es geschehen lässt, ob er aktiv ist oder nicht. Hier zeigt sich, dass die Bereichsverantwortung gar nicht so weit von der Handlungsverantwortung entfernt ist. Es ist eher so, dass die Verantwortung für einen Bereich unsere Handlungsfähigkeit insgesamt ausweitet, weil sie uns die Option eröffnet, in diesem Bereich Dinge geschehen zu lassen oder eben nicht geschehen zu lassen. Dass wir für diesen Bereich verantwortlich sind, bedeutet, dass wir rechtfertigen müssen und daran gemessen werden, was dort geschieht, ganz so wie bei den aktiven Handlungen. Verantwortungsbereiche spielen eine große Rolle in unserem Leben. Deshalb ist es wichtig zu verstehen, woher wir sie bekommen können. Eine Möglichkeit wurde gerade schon angesprochen: Jemand findet sich in einer Situation, in der etwas sehr Wichtiges auf dem Spiel steht und er erfolgversprechend eingreifen kann. Das muss nicht unbedingt der globale Klimawandel sein, es kann auch eine akute Not sein, mit der man direkt konfrontiert ist, wie im biblischen Beispiel des wohltätigen Samariters, der auf einen verletzten Fremden stößt, deshalb für ihn verantwortlich ist und ihn aus seiner Notlage rettet. Es gibt neben solchen Notlagen auch andere, alltäglichere Weisen, aufgrund einer bestimmten Lebenssituation einen Verantwortungsbereich zu erhalten: Persönliche Nahbeziehungen, Freundschaften, Partnerschaften, Eltern-Kind-Beziehungen bringen jeweils eigene Verantwortlichkeitsbereiche mit sich. Eine weitere Möglichkeit liegt darin, dass man Verantwortung übernimmt, zum Beispiel dadurch, dass man es ausdrücklich sagt oder dass man einen Arbeitsvertrag abschließt und dann für einen bestimmten Aufgabenbereich zuständig ist. Auch das ist uns alltäglich vertraut, aber es ist wichtig, es von einer anderen Verwendung von „Ich übernehme die Verantwortung“ zu unterscheiden, wie sie beispielsweise von Politikerinnen und Politikern, Fußballtrainern und -trainerinnen et cetera gerne gewählt wird. In diesen Fällen liegt zweifellos schon eine Verantwortung für einen Bereich vor, in dem etwas schiefgelaufen ist, es geht nur darum zu signalisieren, dass man willens ist, geeignete Konsequenzen zu ziehen (Entschuldigung, Rücktritt, Wiedergutmachung und so weiter), und nicht selten auch, dass es nur eine Bereichs- und keine Handlungsverantwortung ist, man
4|24 Forschung & Lehre 251 VERANTWORTUNG also streng genommen doch nichts falsch gemacht habe. Ein besonderer Fall ist die sogenannte „historische Verantwortung“. Eine historische Verantwortung hat man in der Regel für Geschehnisse, die sich vor der eigenen Geburt abgespielt haben, sodass man natürlich weder eine Handlungsverantwortung für dieses Geschehen hat, noch es hat geschehen lassen. Es ist vielmehr eine Bereichsverantwortung, sich heute um einen angemessenen Umgang mit den vergangenen Ereignissen zu kümmern (Restitution von Beute, mahnendes Gedenken et cetera). Gewöhnlich hängt sie mit einer besonderen Nähe zu den ursprünglich Verantwortlichen zusammen. Die Möglichkeiten, eigene Verantwortungsbereiche zu verändern, Verantwortung zu übernehmen oder von sich zu weisen, sind selbst nicht moralisch neutral. In der Regel ist es lobenswert, seine Verantwortungsbereiche zu erweitern. Eine verantwortungsbewusste Persönlichkeit kümmert sich nicht nur gründlich um bestehende Verantwortungsbereiche, sie ist auch besonders häufig bereit, zusätzliche Verantwortungen auf sich zu nehmen. Zur positiven Bewertung der Übernahme von Verantwortungsbereichen gibt es aber zwei Ausnahmen. Erstens muss man auch wirklich in der Lage sein, sich um das Geschehen in den Bereichen zu kümmern – man muss die Zeit, das Können und so weiter mitbringen. Und zweitens darf man sich durch die Übernahme nicht einfach in den Verantwortungsbereich eines anderen Menschen hineindrängen. Letzteres ist auch deshalb wichtig, weil es einem Menschen häufig nicht nur gleichgültig oder lästig ist, für einen bestimmten Bereich verantwortlich zu sein. Es eröffnet auch Gestaltungsmöglichkeiten und kann einen wichtigen Teil unserer Identität bilden, für etwas verantwortlich zu sein. Verantwortungsbereiche gehören zu unserem Platz in der Gesellschaft und zu unseren individuellen Lebensprojekten. Und vermutlich gibt es sogar bestimmte Verantwortungsbereiche, für die ein Mensch grundsätzlich allein verantwortlich ist oder sein sollte: der eigene Körper, das Denken und Fühlen, besondere zwischenmenschliche Beziehungen, die Lebensplanung insgesamt. Selbstverantwortung in diesem Sinn, kann man sagen, ist ein wesentliches Element unserer persönlichen Autonomie. Wenn sich ein anderer Mensch als verantwortlich für diese Bereiche erklärt, dann ist das in der Regel paternalistisch und übergriffig. Wer kann Verantwortung haben? Die Feststellung, dass es Bereiche gibt, für die jeder Mensch selbst verantwortlich ist, steht in einer gewissen Spannung zu der Annahme, dass besondere zwischenmenschliche Beziehungen auch Verantwortung mit sich bringen. Für den alltäglichen Umgang zwischen Erwachsenen löst sich diese Spannung meistens dadurch, dass die Verantwortung von Partnern, Freunden, Angehörigen durch die Rechte des betreffenden Menschen begrenzt wird. Dass man sich um jemanden sorgen sollte, heißt ja nicht, dass man alles mit ihm machen darf, was man möchte. Eine besondere Situation entsteht aber, wenn jemand für einen Menschen verantwortlich ist, der nicht dazu in der Lage ist, selbst verantwortlich zu handeln, weil er beispielsweise bewusstlos, noch zu jung oder kognitiv nicht dazu fähig ist, eine Situation richtig einzuschätzen und entsprechend zu handeln. In der medizinischen Ethik gibt es viele Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, wie weit die Verantwortungsübernahme anderer Menschen gehen darf, wenn der Mensch selbst nicht für sich verantwortlich sein kann. Diese Fragen deuten schon an, dass sich Verantwortung beim näheren Hinsehen in ein Geflecht von Zuständigkeiten und Teilverantwortungen auffächern kann. Besonders wichtig sind solche Geflechte im Rahmen gemeinschaftlichen Handelns, angefangen von dem, was eine kleine Gruppe von Personen zusammen tut, bis hin zum korporativen Handeln von Unternehmen und ganzen Staaten. Hier stellen sich schwierige Fragen der Verantwortungsverteilung innerhalb dieser kollektiven Akteure, und es lauert die Gefahr einer (möglicherweise sogar gewollten) Verantwortungsdiffusion. Man kann aber auch fragen, ob die kollektiven Akteure selbst Verantwortung haben können, neben den Menschen in ihnen. Einerseits schreiben wir gerade großen Korporationen ganz selbstverständlich sowohl Handlungs- als auch Bereichsverantwortung zu, andererseits gibt es gewichtige Vorbehalte gegen diese Praxis. Denn erstens setzt Verantwortung Handlungsfähigkeit voraus, und es ist in der philosophischen Handlungstheorie umstritten, ob und wenn ja welche Kollektive tatsächlich handeln können. Und zweitens scheinen viele Reaktionen, die der verantwortlichen Person gegenüber angemessen sind (Strafen, Verärgerung et cetera), bei Kollektiven und Korporationen ins Leere zu laufen – es sei denn, sie treffen mittelbar die Menschen, die in ihnen am Werk sind, was dann wiederum darauf hindeutet, dass vielleicht doch immer die Menschen verantwortlich sind. Kollektive Verantwortung ist also möglicherweise nur eine stark abgespeckte Verantwortung (reduziert zum Beispiel auf die Pflichten, Gründe zu geben und Schadensersatz zu leisten). Solche Überlegungen spielen auch eine wichtige Rolle in einer anderen Debatte, die seit ein paar Jahren einen ähnlichen Verlauf nimmt wie die Diskussion um die Verantwortung kollektiver Akteure. Es handelt sich um die Verantwortung von Systemen künstlicher Intelligenz. Derartige Systeme übernehmen immer mehr und immer wichtigere gesellschaftliche Aufgaben, so dass sich zunehmend die Frage stellt, wer verantwortlich ist, wenn etwas schiefgeht. Auch hier ergeben sich die grundsätzlichen Fragen, inwiefern diese Systeme wirklich handeln können und ob nicht die meisten typischen Reaktionen auf menschliche Verantwortung bei Computersystemen ins Leere laufen (Lob und Verachtung, Belohnung und Strafe und so weiter), so dass es wichtig ist, die menschlichen Akteure hinter dem Einsatz der Systeme nicht zu schnell aus der Verantwortung zu entlassen. Im Grunde laufen die Diskussionen der Verantwortung kollektiver Akteure und künstlicher Intelligenzen darauf hinaus, dass ihnen vieles davon fehlt, was die Verantwortung zu einem so wichtigen Element unseres Selbstverständnisses macht. Wie gesagt, wofür wir verantwortlich sind und wie wir mit unserer Verantwortung umgehen, macht viel davon aus, wer wir sind. Deshalb ist Verantwortung zu haben eine wesentlich menschliche Eigenschaft. Vom Autor ist Anfang 2024 das Buch „Handelnde Personen“ im Verlag Brill Mentis erschienen. »Verantwortungsbereiche gehören zu unserem Platz in der Gesellschaft und zu unseren individuellen Lebensprojekten.«
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