Forschung & Lehre 04/2024

4|24 Forschung & Lehre 249 VERANTWORTUNG Angesichts der philosophischen Bedeutung der Verantwortung ist es erstaunlich, dass das Wort „Verantwortung“ philosophiehistorisch vergleichsweise jung ist. Erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts hat es etablierte Ausdrücke wie „Zurechnung“, „Schuld“ und „Pflicht“ ersetzt oder ergänzt. Es ist eine spannende Frage, inwieweit dieser terminologische Wechsel mit einer sachlichen Veränderung einherging. Jedenfalls war das Wort „Verantwortung“ damals im allgemeinen Sprachgebrauch seinen etymologischen Wurzeln noch deutlich näher als heute. Wer etwas „verantwortete“, stand in der Regel Rede und Antwort für etwas, was er getan hatte, beispielsweise vor Gericht. Wenn also anstatt von der bloßen „Zurechnung“ von „Verantwortung“ die Rede war, dann ging der Blick offenkundig weg von der bloßen Handlung und ihren Folgen und hin zu den Gründen und Überlegungen hinter der Handlung sowie zu der damit verbundenen sozialen Praxis, Handlungen mit anderen Menschen zu beratschlagen und ihnen gegenüber zu rechtfertigen. Das Verhältnis von Handlungsgründen und Handlungen und die möglichen Reaktionen, die sie hervorrufen, spielen heute eine zentrale Rolle für viele philosophische Themen rund um Verantwortlichkeit. Was heißt es, verantwortlich zu sein? Auch wenn Verantwortung ein wichtiges Element des spezifisch menschlichen Zusammenlebens ist, verwenden wir diesen Begriff ganz selbstverständlich sehr viel breiter. Dass X verantwortlich ist, heißt häufig nicht mehr als: Etwas liegt an X, X ist seine Ursache, X erklärt es. Interessant an dieser breiten Verwendung ist, dass auch die spezifisch menschliche Verantwortung, um die es in der Philosophie ausschließlich geht, in ihrem Kern kausal ist. Wir sind nur dann für etwas verantwortlich, wenn wir es irgendwie beeinflussen, beeinflusst haben oder zumindest beeinflussen können. Was die menschliche Verantwortung allerdings so besonders macht, ist die Art dieser Beeinflussung. Verantwortung ist eng an unsere Handlungsfähigkeit gekoppelt. Handeln bedeutet grob gesprochen, in die Welt entsprechend unseren Absichten, Überzeugungen, Vorlieben, Pläne, Entschlüssen einzugreifen. Handlungen und ihre Folgen sind wiederum der Gegenstand von spezifischen Werturteilen. Nur Handlungen (und teilweise auch die handelnden Personen selbst) können klug oder unklug, moralisch gut oder böse, rechtlich erlaubt oder verboten sein. Der Begriff der Verantwortung steht für diese Verbindung: Verantwortlich sind wir grundsätzlich für etwas, was wir durch unser Handeln in der Welt bewirken, und das deshalb an bestimmten Wertmaßstäben gemessen werden kann. Da hier unterschiedliche Maßstäbe in Frage kommen können (jemand kann zum Beispiel moralisch, aber nicht rechtlich für etwas verantwortlich sein), wird Verantwortung häufig als dreistellige Relation aufgefasst: Eine Person ist für eine Handlung beziehungsweise Handlungsfolge hinsichtlich eines Wertmaßstabs verantwortlich. Handlungsbewertungen können prinzipiell sowohl negativ als auch positiv sein. In der Regel interessieren wir uns aber eher für die negative Verantwortung. Wir suchen nach Verantwortlichen, wenn etwas schiefläuft. In der Moralphilosophie ist dies die Voraussetzung für Schuld. Können wir überhaupt Verantwortung haben? Woran können Menschen schuld sein? Die naheliegende Antwort lautet: eben an ihren Handlungen und deren Folgen. Schon seit der Antike wird aber bezweifelt, dass diese Antwort ausreicht. Was hinzukommen müsse, so beispielsweise Aristoteles im dritten Buch der „Nikomachischen Ethik“, ist die Freiwilligkeit der Handlung. Damit ist eines der prominentesten philosophischen Probleme im Zusammenhang mit der Verantwortung angesprochen, ihre Beziehung zur Freiheit. Während es bei Aristoteles noch darum ging, die Grenzen der Freiwilligkeit aufzuklären (zum Beispiel welche Rollen Unwissenheit oder „Sachzwänge“ spielen), verlagerte sich die philosophische Aufmerksamkeit bald auf die grundsätzliche Frage, ob Menschen jemals frei genug in ihrem Handeln sind, um Verantwortung zu haben. Sind wir nicht alle, so die Herausforderung, in unserem Handeln vorherbestimmt, sodass wir gar nicht anders handeln können, als wir es faktisch tun? Und ist es dann nicht falsch und ungerecht, uns trotzdem für unsere Handlungen verantwortlich zu machen? Ursprünglich gründete diese Überlegung in der Unerbittlichkeit des Schicksals oder der Allmacht Gottes, heute wird es in der Regel als Konflikt zwischen Freiheit und naturgesetzlicher Determination des Menschen diskutiert. Die Debatte dieses sogenannten „Freiheitsproblems“ ist uferlos, mit zahllosen Verästelungen, aber ganz grob kann man drei Antwortmöglichkeiten unterscheiden: Entweder man bestreitet die naturgesetzliche Eingebundenheit des Menschen (Indeterminismus) oder man bestreitet seine Freiheit und damit seine Verantwortlichkeit (harter Determinismus) oder man bestreitet, dass sich Freiheit und Determiniertheit ausschließen (Kompatibilismus). Auch wenn es heute Vertreterinnen und Vertreter aller drei Spielarten gibt und gerade im Kontext der modernen Hirnforschung in den letzten Jahren versucht wurde, den harten Determinismus stark zu machen, ist die dritte Position bei weitem die plausibelste. Die Frage ist nur, wie sich Freiheit und Verantwortung damit vertragen, dass wir alle ein Teil der naturgesetzlich ablaufenden Welt sind. Ein möglicher Ansatz, den beispielsweise David Hume verfolgt hat, besteht darin, Verantwortung einfach daran zu koppeln, dass Handelnde tun, was sie tun möchten, auch wenn sie wiederum in dem, was sie möchten, determiniert sind. Anderen war diese „Freiheit eines Bratenwenders“, wie Immanuel Kant sie bezeichnet hat, zu mager für Verantwort- | RALF STOECKER | Für Menschen ist es wesentlich, Verantwortung zu haben . Der Begriff der Verantwortung verbindet unsere Fähigkeit, als Handelnde Einfluss auf dieWelt um uns herum zu nehmen, mit unserer sozialen Praxis, uns gemeinsam über Gründe auszutauschen und unser Tun wechselseitig zu bewerten . Das macht ihn zu einem zentralen Begriff der praktischen Philosophie . Ralf Stoecker ist Seniorprofessor für Praktische Philosophie an der Universität Bielefeld. Foto: Daniel Stoecker

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