Forschung & Lehre 4|24 250 VERANTWORTUNG »Wir können auch für Folgen verantwortlich sein, die wir weder beabsichtigen noch vorhersehen.« lichkeit. Sie haben deshalb versucht, die Bedingungen zu verschärfen, von der bloßen Handlungsfreiheit hin zur Willensfreiheit, bei der die Verantwortlichkeit an komplexere Voraussetzungen gebunden ist als bloß an Wünsche. All diese Versuche stehen aber vor dem grundsätzlichen Problem, dass sie an irgendeiner Stelle der Handlungsgenese einen Freiraum konstatieren, der sofort in Widerspruch zum naturgesetzlichen Determinismus zu geraten droht. Angesichts der philosophischen Schwierigkeiten, das Freiheitsproblem befriedigend zu lösen, liegt der Gedanke nahe, dass vielleicht viel zu hohe Ansprüche an die Verantwortung gestellt werden. Dies führt unmittelbar weiter zu der Frage, was überhaupt aus Verantwortlichkeit folgt. Was bedeutet es für eine Person, verantwortlich zu sein? Bislang sind schon verschiedene Antworten angeklungen. Wer verantwortlich ist, von denen kann man erwarten, dass sie Rede und Antwort über ihre Handlungsgründe stehen. Wer verantwortlich ist, kann mit Recht bewertet werden, hat sich verdient gemacht oder ist schuldig, ist lobenswert oder tadelnswert. Und dies wiederum macht unter Umständen weitere Reaktionen angemessen: Belohnung oder Strafe, Wertschätzung und Dankbarkeit oder Vorwürfe und Verachtung. Als Ausweg aus dem Freiheitsproblem wird deshalb manchmal versucht zu zeigen, dass diese sozialen Praktiken begründet und sinnvoll sind, auch ohne dass zuvor das philosophische Grundsatzproblem gelöst wäre. Wofür sind wir verantwortlich? Lässt man die philosophischen Zweifel beiseite, ob wir überhaupt für irgendetwas verantwortlich sein können, dann stellt sich immer noch die Frage, wofür wir verantwortlich sind und wofür nicht. Die naheliegende Antwort wurde schon angesprochen: für unsere Handlungen und deren Folgen. Ein Problem für diese Antwort ist allerdings die prinzipielle Unabsehbarkeit der Folgen. Einerseits können wir auch für Folgen verantwortlich sein, die wir weder beabsichtigen noch vorhersehen. (Manches hätten wir halt in Betracht ziehen sollen.) Andererseits gibt es Grenzen dessen, was wir überblicken können und müssen. Wo diese liegen, ist schwierig generell zu beantworten, aber zwei Aspekte spielen dabei eine wichtige Rolle: wie positiv oder negativ eine Folge wäre und wie wahrscheinlich es ist, dass sie eintritt. Für das Verständnis der Veränderungen in der philosophischen Bedeutung der Verantwortung sind diese beiden Aspekte besonders wichtig, weil es in beiden Hinsichten seit dem 19. Jahrhundert eine dramatische Entwicklung gegeben hat. Wir Menschen haben unsere Handlungsfähigkeiten seitdem immens erweitert, sowohl was die Einflussmöglichkeiten als auch die Absehbarkeit der Folgen angeht. Wir besitzen Waffen, die auf einen Schlag die Erde vernichten können; unsere biologischen und medizinischen Fertigkeiten erlauben die Bekämpfung vieler Krankheiten, ermöglichen allerdings auch weitgehende Eingriffe in die basalen Strukturen des Menschen und der Natur; die globale Wirtschaft und die Politik bestimmen, wohin die Ressourcen der Welt fließen, wo welche Menschen leben können und wie sich das Klima entwickelt; die Entwicklung der Medien und letztlich des Internets verändert grundsätzlich die Grenzen des Wissens jedes einzelnen Menschen sowie unsere Vorstellungen von Nähe und Distanz insgesamt; Künstliche Intelligenz übernimmt immer weiterreichende Regelungsaufgaben und so weiter. Schon Mitte des 20. Jahrhunderts hat deswegen der Philosoph Hans Jonas für das „Prinzip Verantwortung“ geworben, für eine Verschiebung der Verantwortung von der bloßen Verantwortung für eigenes Handeln hin zu einer Verantwortung aller Menschen für die Fortexistenz unseres Planeten. Die Entwicklung bis heute hat zweifellos gezeigt, wie wichtig diese Mahnungen von Jonas und seinen Zeitgenossen waren. Aus Sicht der Philosophie der Verantwortung kommt hier aber ein neues Element ins Spiel, das bislang noch nicht erwähnt wurde, die Verantwortung für Verantwortungsbereiche. Auch das ist eine durchaus vertraute Form der Verantwortung. Beinahe jeder Mensch ist in einer ganzen Reihe von Bereichen verantwortlich für das, was dort geschieht oder nicht geschieht, unabhängig davon, ob er es selbst getan hat. Oder besser gesagt: Alles, was dort geschieht, zählt insofern zu seinen Handlungen, als er es geschehen lässt, ob er aktiv ist oder nicht. Hier zeigt sich, dass die Bereichsverantwortung gar nicht so weit von der Handlungsverantwortung entfernt ist. Es ist eher so, dass die Verantwortung für einen Bereich unsere Handlungsfähigkeit insgesamt ausweitet, weil sie uns die Option eröffnet, in diesem Bereich Dinge geschehen zu lassen oder eben nicht geschehen zu lassen. Dass wir für diesen Bereich verantwortlich sind, bedeutet, dass wir rechtfertigen müssen und daran gemessen werden, was dort geschieht, ganz so wie bei den aktiven Handlungen. Verantwortungsbereiche spielen eine große Rolle in unserem Leben. Deshalb ist es wichtig zu verstehen, woher wir sie bekommen können. Eine Möglichkeit wurde gerade schon angesprochen: Jemand findet sich in einer Situation, in der etwas sehr Wichtiges auf dem Spiel steht und er erfolgversprechend eingreifen kann. Das muss nicht unbedingt der globale Klimawandel sein, es kann auch eine akute Not sein, mit der man direkt konfrontiert ist, wie im biblischen Beispiel des wohltätigen Samariters, der auf einen verletzten Fremden stößt, deshalb für ihn verantwortlich ist und ihn aus seiner Notlage rettet. Es gibt neben solchen Notlagen auch andere, alltäglichere Weisen, aufgrund einer bestimmten Lebenssituation einen Verantwortungsbereich zu erhalten: Persönliche Nahbeziehungen, Freundschaften, Partnerschaften, Eltern-Kind-Beziehungen bringen jeweils eigene Verantwortlichkeitsbereiche mit sich. Eine weitere Möglichkeit liegt darin, dass man Verantwortung übernimmt, zum Beispiel dadurch, dass man es ausdrücklich sagt oder dass man einen Arbeitsvertrag abschließt und dann für einen bestimmten Aufgabenbereich zuständig ist. Auch das ist uns alltäglich vertraut, aber es ist wichtig, es von einer anderen Verwendung von „Ich übernehme die Verantwortung“ zu unterscheiden, wie sie beispielsweise von Politikerinnen und Politikern, Fußballtrainern und -trainerinnen et cetera gerne gewählt wird. In diesen Fällen liegt zweifellos schon eine Verantwortung für einen Bereich vor, in dem etwas schiefgelaufen ist, es geht nur darum zu signalisieren, dass man willens ist, geeignete Konsequenzen zu ziehen (Entschuldigung, Rücktritt, Wiedergutmachung und so weiter), und nicht selten auch, dass es nur eine Bereichs- und keine Handlungsverantwortung ist, man
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