Forschung & Lehre 04/2024

4|24 Forschung & Lehre 251 VERANTWORTUNG also streng genommen doch nichts falsch gemacht habe. Ein besonderer Fall ist die sogenannte „historische Verantwortung“. Eine historische Verantwortung hat man in der Regel für Geschehnisse, die sich vor der eigenen Geburt abgespielt haben, sodass man natürlich weder eine Handlungsverantwortung für dieses Geschehen hat, noch es hat geschehen lassen. Es ist vielmehr eine Bereichsverantwortung, sich heute um einen angemessenen Umgang mit den vergangenen Ereignissen zu kümmern (Restitution von Beute, mahnendes Gedenken et cetera). Gewöhnlich hängt sie mit einer besonderen Nähe zu den ursprünglich Verantwortlichen zusammen. Die Möglichkeiten, eigene Verantwortungsbereiche zu verändern, Verantwortung zu übernehmen oder von sich zu weisen, sind selbst nicht moralisch neutral. In der Regel ist es lobenswert, seine Verantwortungsbereiche zu erweitern. Eine verantwortungsbewusste Persönlichkeit kümmert sich nicht nur gründlich um bestehende Verantwortungsbereiche, sie ist auch besonders häufig bereit, zusätzliche Verantwortungen auf sich zu nehmen. Zur positiven Bewertung der Übernahme von Verantwortungsbereichen gibt es aber zwei Ausnahmen. Erstens muss man auch wirklich in der Lage sein, sich um das Geschehen in den Bereichen zu kümmern – man muss die Zeit, das Können und so weiter mitbringen. Und zweitens darf man sich durch die Übernahme nicht einfach in den Verantwortungsbereich eines anderen Menschen hineindrängen. Letzteres ist auch deshalb wichtig, weil es einem Menschen häufig nicht nur gleichgültig oder lästig ist, für einen bestimmten Bereich verantwortlich zu sein. Es eröffnet auch Gestaltungsmöglichkeiten und kann einen wichtigen Teil unserer Identität bilden, für etwas verantwortlich zu sein. Verantwortungsbereiche gehören zu unserem Platz in der Gesellschaft und zu unseren individuellen Lebensprojekten. Und vermutlich gibt es sogar bestimmte Verantwortungsbereiche, für die ein Mensch grundsätzlich allein verantwortlich ist oder sein sollte: der eigene Körper, das Denken und Fühlen, besondere zwischenmenschliche Beziehungen, die Lebensplanung insgesamt. Selbstverantwortung in diesem Sinn, kann man sagen, ist ein wesentliches Element unserer persönlichen Autonomie. Wenn sich ein anderer Mensch als verantwortlich für diese Bereiche erklärt, dann ist das in der Regel paternalistisch und übergriffig. Wer kann Verantwortung haben? Die Feststellung, dass es Bereiche gibt, für die jeder Mensch selbst verantwortlich ist, steht in einer gewissen Spannung zu der Annahme, dass besondere zwischenmenschliche Beziehungen auch Verantwortung mit sich bringen. Für den alltäglichen Umgang zwischen Erwachsenen löst sich diese Spannung meistens dadurch, dass die Verantwortung von Partnern, Freunden, Angehörigen durch die Rechte des betreffenden Menschen begrenzt wird. Dass man sich um jemanden sorgen sollte, heißt ja nicht, dass man alles mit ihm machen darf, was man möchte. Eine besondere Situation entsteht aber, wenn jemand für einen Menschen verantwortlich ist, der nicht dazu in der Lage ist, selbst verantwortlich zu handeln, weil er beispielsweise bewusstlos, noch zu jung oder kognitiv nicht dazu fähig ist, eine Situation richtig einzuschätzen und entsprechend zu handeln. In der medizinischen Ethik gibt es viele Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, wie weit die Verantwortungsübernahme anderer Menschen gehen darf, wenn der Mensch selbst nicht für sich verantwortlich sein kann. Diese Fragen deuten schon an, dass sich Verantwortung beim näheren Hinsehen in ein Geflecht von Zuständigkeiten und Teilverantwortungen auffächern kann. Besonders wichtig sind solche Geflechte im Rahmen gemeinschaftlichen Handelns, angefangen von dem, was eine kleine Gruppe von Personen zusammen tut, bis hin zum korporativen Handeln von Unternehmen und ganzen Staaten. Hier stellen sich schwierige Fragen der Verantwortungsverteilung innerhalb dieser kollektiven Akteure, und es lauert die Gefahr einer (möglicherweise sogar gewollten) Verantwortungsdiffusion. Man kann aber auch fragen, ob die kollektiven Akteure selbst Verantwortung haben können, neben den Menschen in ihnen. Einerseits schreiben wir gerade großen Korporationen ganz selbstverständlich sowohl Handlungs- als auch Bereichsverantwortung zu, andererseits gibt es gewichtige Vorbehalte gegen diese Praxis. Denn erstens setzt Verantwortung Handlungsfähigkeit voraus, und es ist in der philosophischen Handlungstheorie umstritten, ob und wenn ja welche Kollektive tatsächlich handeln können. Und zweitens scheinen viele Reaktionen, die der verantwortlichen Person gegenüber angemessen sind (Strafen, Verärgerung et cetera), bei Kollektiven und Korporationen ins Leere zu laufen – es sei denn, sie treffen mittelbar die Menschen, die in ihnen am Werk sind, was dann wiederum darauf hindeutet, dass vielleicht doch immer die Menschen verantwortlich sind. Kollektive Verantwortung ist also möglicherweise nur eine stark abgespeckte Verantwortung (reduziert zum Beispiel auf die Pflichten, Gründe zu geben und Schadensersatz zu leisten). Solche Überlegungen spielen auch eine wichtige Rolle in einer anderen Debatte, die seit ein paar Jahren einen ähnlichen Verlauf nimmt wie die Diskussion um die Verantwortung kollektiver Akteure. Es handelt sich um die Verantwortung von Systemen künstlicher Intelligenz. Derartige Systeme übernehmen immer mehr und immer wichtigere gesellschaftliche Aufgaben, so dass sich zunehmend die Frage stellt, wer verantwortlich ist, wenn etwas schiefgeht. Auch hier ergeben sich die grundsätzlichen Fragen, inwiefern diese Systeme wirklich handeln können und ob nicht die meisten typischen Reaktionen auf menschliche Verantwortung bei Computersystemen ins Leere laufen (Lob und Verachtung, Belohnung und Strafe und so weiter), so dass es wichtig ist, die menschlichen Akteure hinter dem Einsatz der Systeme nicht zu schnell aus der Verantwortung zu entlassen. Im Grunde laufen die Diskussionen der Verantwortung kollektiver Akteure und künstlicher Intelligenzen darauf hinaus, dass ihnen vieles davon fehlt, was die Verantwortung zu einem so wichtigen Element unseres Selbstverständnisses macht. Wie gesagt, wofür wir verantwortlich sind und wie wir mit unserer Verantwortung umgehen, macht viel davon aus, wer wir sind. Deshalb ist Verantwortung zu haben eine wesentlich menschliche Eigenschaft. Vom Autor ist Anfang 2024 das Buch „Handelnde Personen“ im Verlag Brill Mentis erschienen. »Verantwortungsbereiche gehören zu unserem Platz in der Gesellschaft und zu unseren individuellen Lebensprojekten.«

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