Forschung & Lehre 04/2024

Forschung & Lehre 4|24 256 VERANTWORTUNG WessenVerantwortung wofür? Die Vielfalt der Forderungen an Wissenschaft und Hochschulen Derzeit werden Forderungen nach Verantwortung unterschiedlicher Art von mehreren Seiten an verschiedene Akteure im Feld der Hochschulen und der Wissenschaften gerichtet. Um anzudeuten, woher diese Vermehrung gekommen ist, mag ein kurzer historischer Rückblick behilflich sein. Individuelle Verantwortung Die Forderung nach individueller Verantwortung kommt ursprünglich aus dem Rechtswesen, in dem es seit Jahrhunderten heißt, dass sich eine Person für eine Straftat oder die Rückzahlung eines Kredits zu verantworten habe. Schon 1919 sprach Max Weber von einer ethischen „Verantwortlichkeit“ von Politikerinnen und Politikern für die Konsequenzen ihres Handelns, doch richtete er eine derartige Forderung noch nicht an die Wissenschaft. Dementsprechend wies der Leiter der deutschen Gaswaffenforschung im Ersten Weltkrieg, Fritz Haber, unter Verweis auf die militärische Leitung jegliche Verantwortung für die Entscheidung, diese Waffen einzusetzen, von sich. Erst nach dem Abwurf der Atombombe über Hiroshima 1945 fand das Wort „Verantwortung“ in Reden des Bombenentwicklers J. Robert Oppenheimer und des Mitentdeckers der Kernspaltung Otto Hahn Eingang in den wissenschaftspolitischen Diskurs. Von Bekenntnissen zur Tat kam es in Deutschland mit der vielfach gelobten Göttinger Erklärung von 1957, in der sich 18 Naturwissenschaftler gegen die militärische und für die friedliche Nutzung der Atomforschung äußerten. Wie der Philosoph Karl Jaspers anmerkte, hatte sich die Bundesregierung noch nicht entschieden, derartige Forschungen in Auftrag zu geben, weshalb es sich dabei nicht mehr um Verantwortung für Forschungsfolgen, sondern um eine Art Präventivverantwortung für Forschung handelte, um die noch nicht gebeten worden war. Soziale und politische Verantwortung Ab den 1970er Jahren gingen die Forderungen nach einer Verantwortung der Wissenschaft über den Bereich der Atomwaffen, des Friedens und der Wettrüstung weit hinaus. Mit dem Übergang des Kampfs gegen Atomwaffen zu einem gegen Atommeiler wurde eine Verantwortungsforderung nunmehr auch für die friedliche Nutzung der Kernenergie artikuliert. Infolge der 1968er-Bewegung wurde der Ruf nach einer sozialen und politischen Verantwortung der Wissenschaften unter Rückbesinnung auf die vergleichbare Bewegung in Großbritannien der 1930er Jahre sowie auf die Kritik des Linguisten und Linksintellektuellen Noam Chomsky gegen die Machthörigkeit vieler Intellektueller laut. Im Kampf um die Gentechnik ging es um Eingriffe in die natürliche Beschaffenheit der Pflanzen und Tiere wie des Menschen. Diesen Forderungen wurde mit Verweis auf das „Prinzip Verantwortung“ des Philosophen Hans Jonas ein ethischer Charakter verliehen und mit Forderungen nach einer Verantwortungsethik in der Politik, wie sie schon bei Max Weber angeklungen war, verbunden. Parallel dazu rief man nach einem verantwortlichen Umgang mit Tieren und Menschen im Forschungsprozess. Anlass im letzteren Fall waren die Experimente des Sozialpsychologen Stanley Milgram, in denen Versuchspersonen dazu gebracht wurden, im Rahmen vermeintlicher Lernexperimente anderen Menschen (die in Wirklichkeit schauspielernde Komplizen des Experimentators waren) dem Anschein nach Schmerzen zuzufügen. Infolge solcher Kontroversen ist die Überprüfung von Förderungsanträgen mit Blick auf den beabsichtigten Umgang mit Tieren und Menschen eingeführt worden. Um einer staatlichen Regelung oder im Falle der Forschung mit Tieren gar einem Verbot vorzubeugen, sollte die Wissenschaft selbst Verantwortung über- | MITCHELL G. ASH | Neben historisch gewachsenen Forderungen nach der „Verantwortung der Wissenschaft“ sind in den vergangenen Jahren weitere hinzugekommen . Welcher Voraussetzungen in der Wissenschaft, in den Hochschulen und in der Politik bedarf es, damit diese Forderungen ernstgenommen werden? »Ab den 1970er Jahren gingen die Forderungen nach einer Verantwortung der Wissenschaft über den Bereich der Atomwaffen, des Friedens und der Wettrüstung weit hinaus.« Mitchell G . Ashist emeritierter Professor für Geschichte der Neuzeit mit Schwerpunkt Wissenschaftsgeschichte an der Universität Wien und Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. AUTOR Foto: Privat

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