Forschung & Lehre 04/2024

4|24 Forschung & Lehre 257 nehmen. Das Gleiche wurde und wird für den Umgang mit Plagiatsvorwürfen gefordert, doch hier haben sich übergreifende Selbstdisziplinarmaßnahmen nicht durchgesetzt. Seit den 1990er Jahren bestanden diese Forderungen allesamt weiter, und es kamen noch viele weitere hinzu. Selbst Forderungen der Wirtschaft nach hochqualifizierten Arbeitskräften, die in möglichst kurzer Zeit verfügbar sein sollten, sowie nach einer verstärkten Transferbereitschaft von der Grundlagenforschung zur Wirtschaft sind zuweilen in der Sprache der Verantwortung formuliert worden. Spätestens seit der Coronakrise, aber eigentlich schon viel früher, ist eine Forderung nach der Offenlegung von Forschungsmethoden, Daten, Datenvernetzungen und Ergebnissen sowie der Unsicherheitsfaktoren in der Urteilsbildung von Expertinnen und Experten hinzugekommen. Während sich derartige Forderungen an Forschende richten, die an der Schnittstelle zur Politik arbeiten, richten sich die Forderungen der Wirtschaft an die Hochschul- und Forschungspolitik. Im Fall der derzeit mit besonderer Intensität versuchten Diskurskontrollen in der Lehre durch identitätspolitisch bewegte Aktivistinnen und Aktivisten sowie militante Studierende richtet sich die Verantwortungsfrage hingegen an die Hochschulleitungen. Diese schwanken oft zwischen der Aufrechterhaltung der Redefreiheit selbst für vermeintlich unangenehme Meinungen und der Verpflichtung, für Ordnung auf dem Campus im Sinne der Freiheit von Lehre und Forschung zu sorgen. Schwierige Priorisierung der Verantwortungsforderungen Charakteristisch für die heutige Situation ist es, dass alle diese Forderungen und noch weitere, wie jene nach einer Erweiterung des Lehrkörpers unter den Stichworten Gleichstellung der Geschlechter und „Diversity“, gleichzeitig im Raum stehen, weshalb nicht allein Forschende oder die Hochschulen, sondern auch die Politik auf den Plan gerufen sind. Die Situation wird keinesfalls einfacher, wenn neuerdings überlegt wird, angesichts der heutigen weltpolitischen Lage eine Zusammenarbeit der Forschung an Hochschulen mit dem Militär wieder einzuführen, die früher aus Verantwortungserwägungen abgelehnt wurde. Seit Längerem besteht eine multifunktionale Hochschule mit vielfältigen Aufgaben, deren Stakeholder zuweilen sehr unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wofür Universitäten überhaupt da sind oder da sein sollten. Dass Hochschulleitungen dieser Forderungsvielfalt oft schwankend oder gar hilflos gegenüberstehen, mag nachvollziehbar sein, zumal diese Forderungen sowohl miteinander als auch mit der im Grundgesetz gesicherten Freiheit von Forschung und Lehre im Widerspruch zu stehen scheinen. Doch Unklarheit darüber, welche dieser vielen Verantwortungsforderungen Vorrang haben sollen, dürfte eigentlich nicht bestehen. In den soeben erschienenen Grundsätzen und Empfehlungen einer interdisziplinären Arbeitsgruppe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zur Wahrung und Förderung der Wissenschaftsfreiheit in Deutschland wird unmissverständlich Folgendes festgehalten: Wissenschaftsfreiheit darf nicht gesellschaftliche Verantwortungslosigkeit rechtfertigen oder als Freibrief für allerlei Meinungsäußerungen von Forschenden missverstanden werden. Zur Verantwortung der Wissenschaft gehört aber auch die kritische Selbstprüfung von Forschenden daraufhin, ob ihr Verhalten sich längerfristig negativ auf ihre eigene Wissenschaftsfreiheit oder die anderer auswirken könnte. Des Weiteren wird Forschenden und Hochschulleitungen gleichermaßen empfohlen, bei versuchten Diskurskontrollen den Angegriffenen zur Seite zu stehen. Ebenfalls hervorgehoben wird eine Verantwortung der Politik für eine adäquate Grundfinanzierung von Lehre und Forschung. Denn erst damit kann die im Grundgesetz garantierte Freiheit von Forschung und Lehre ohne die derzeit bestehende Abhängigkeit von Drittmitteleinwerbungen überhaupt ermöglicht werden. Die Vielfalt bleibt Weder die historisch gewachsene Vielfalt der Verantwortungsforderungen noch die heutige Verbindung von wissenschaftsethischen mit politischen Forderungen werden verschwinden. Das alles lediglich als Schwierigkeit im Umgang mit der öffentlichen Wahrnehmung von Wissenschaft und Hochschulen zu bejammern oder gar als bloßes Verwaltungsproblem zu betrachten, reicht sicherlich nicht aus. Vielmehr müsste diese Vielfältigkeit konstruktiv als Ansporn dafür dienen, wissenschaftliche Forschung und Lehre nicht nur methodisch, sondern auch gesellschaftlich zu reflektieren und dies in der Öffentlichkeit deutlich zu erklären, damit diese Verantwortungen von Lehrenden, Forschenden, Hochschulleitungen und auch der Politik ernstgenommen werden. Dirk Siepmann | Wörterbuch Hochschule | Forschung, Lehre und Management | Deutsch – Englisch | Englisch – Deutsch Ob Sie „Berufungsleistungsbezüge“ oder „Zulassungsbeschränkung“ ins Englische übersetzen wollen: Das „Wörterbuch Hochschule“ von Dirk Siepmann ist ein verlässliches Nachschlagewerk für alle Bereiche des Hochschullebens. Dirk Siepmannist Professor für Fachdidaktik des Englischen an der Universität Osnabrück. Er verfügt über eine jahrzehntelange Erfahrung in Fremdsprachendidaktik, Übersetzungswissenschaft und Lexikographie. Gebundene Ausgabe, 4. überarbeitete und erweiterte Auflage 2019, 352 S., 19,90 Euro (D) inkl. Porto, für DHVMitglieder zum Sonderpreis von 17,90 Euro inkl. Porto. Zu bestellen über: Deutscher Hochschulverband, Rheinallee 18-20, 53173 Bonn, Tel. 0228 90266-66, Fax 0228 90266-80 oder per Mail: dhv@hochschulverband.de Anzeige

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