Forschung & Lehre 4|24 258 VERANTWORTUNG Schuld und Sanktion Eine rechtliche Perspektive auf Verantwortung in der Wissenschaft Reaktionen auf Fehlverhalten im Wissenschaftssystem sollten nicht beliebig, sondern regelorientiert erfolgen. Das Recht fächert Verantwortlichkeit nach Anlass, Verfahren und betroffener Institution auf. Wissenschaftliches Fehlverhalten muss nach Regeln festgestellt werden, die in Satzungen guter wissenschaftlicher Praxis oder Promotions- und Habilitationsordnungen niedergelegt sind. Geht es hingegen nicht um spezifische Wissenschaftsinhalte, sondern um Regelverstöße, die sich auch an jedem anderen Arbeitsplatz ereignen könnten (etwa Belästigung, Gewalt, Machtmissbrauch, Korruption), kann dies nach allgemeinen Regeln des Beamten-, Arbeits- oder Strafrechts sanktioniert werden. Von entscheidender Bedeutung sind zudem Reaktionen der vielfältigen außeruniversitären Akteure des Wissenschaftssystems, etwa Retraktionen durch Fachjournale, durch Forschungsorganisationen oder Maßnahmen der Deutschen Forschungsgemeinschaft nach deren Verfahrensordnung. Rechtlich beruhen diese privatrechtlichen Mechanismen der Sanktionierung auf vertraglichen Vereinbarungen mit Verlagen, Arbeitgebern oder Förderorganisationen. Wissenschaftsfreiheit und Fehlverhalten Im Wissenschaftssystem arbeiten zunächst einmal Individuen, die unter dem Schutz des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) autonom forschen und lehren. Was wissenschaftlich richtig ist, beurteilt sich nach fachlichen Maßstäben, die im wissenschaftlichen Diskurs entstehen. Hierbei sind die „Eigengesetzlichkeiten“ der Wissenschaft zu respektieren (BVerfG, Beschl. v. 26.10.2004 – 1 BvR 911/00, BVerfGE 111, 333, 354; Beschl. v. 24.6.2014 – 1 BvR 3217/07, BVerfGE 138, 338, 368). Ob etwas gute oder schlechte Wissenschaft ist, ein methodischer Ansatz belastbar erscheint oder Forschungsergebnisse überzeugen, muss im Diskurs innerhalb der Wissenschaften verhandelt werden. Staatlichen Behörden ist es grundsätzlich verwehrt, hierüber amtlich zu entscheiden. Die einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler tragen gerade aufgrund ihrer Freiheit eine hohe gesellschaftliche Verantwortung, die eine „Ehrfurcht vor der Wahrheit“ (Lise Meitner) voraussetzt, sich insbesondere nicht ergebnisorientiert oder interessengeleitet vereinnahmen zu lassen. Der Schutz der Wissenschaftsfreiheit entfällt erst dann, wenn Rationalitätsanforderungen an wissenschaftliches Handeln systematisch unterlaufen werden, sodass keine ernsthafte und planmäßige Suche nach Wahrheit mehr vorliegt (BVerfG, Beschl. v. 11.1.1994 – 1 BvR 434/87, BVerfGE 90, 1, 12; BVerwG, Urt. v. 11.12.1996 – 6 C 5/95, BVerwGE 102, 304, 311). Das ist namentlich der Fall, wenn Forschungsergebnisse auf wissenschaftlichem Fehlverhalten (zum Beispiel Datenfälschung, Plagiat, angemaßter Autorschaft an fremden Forschungsdaten) beruhen. So hat das Bundesverwaltungsgericht überzeugend ausgeführt, dass dem Entzug eines unredlich erworbenen Doktorgrads nicht der Schutz der Wissenschaftsfreiheit entgegengehalten werden könne, der bei „vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Verstößen gegen wissenschaftliche Kernpflichten“ entfalle (Urt. v. 31.7.2013 – 6 C 9/12, BVerwGE 147, 292, 301). Freilich ist meist der konkrete Nachweis anspruchsvoll, ob Kommunikation, die äußerlich in wissenschaftlichen Formen erfolgt (zum Beispiel als Aufsatz in einer Fachzeitschrift oder als Fachvortrag), dem Inhalt nach eigentlich keine Wissenschaft mehr ist, weil Mindestanforderungen wissenschaftlicher Objektivierung durch Fehlverhalten unterlaufen werden. Aus diesem Grund wird hierüber wissenschaftsadäquat in besonderen Verfahren – namentlich vor Ombudspersonen und -kommissionen oder vor Promotions- und Habilitationskommissionen – entschieden, in denen eine Zuschreibung von Verantwortlichkeit für Fehler nach wissenschaftlichfachlichen Kriterien erfolgt. Schutzverantwortung und individuelle Verantwortung Liegt wissenschaftliches Fehlverhalten nachweislich vor, folgt aus der Wissenschaftsfreiheit eine objektiv-rechtliche Schutzverantwortung der Hochschule, durch geeignete Maßnahmen die wissenschaftliche Integrität sicherzustellen, also zum Beispiel unredlich erlangte Doktorgrade wieder zu entziehen (BVerwG, Urt. v. 21.6.2017 – 6 C 3/16, BVerwGE 159, 148, 168). Während die Einzelnen für das | KLAUS FERDINAND GÄRDITZ | Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler tragen eine rechtliche Verantwortung für die Richtigkeit und Integrität ihrer Arbeit sowie für die Einhaltung ethischer Standards . Bei Verstößen gegen dieseVerantwortung können rechtliche Konsequenzen drohen . Ein Überblick . Klaus Ferdinand Gärditz ist Professor für Öffentliches Recht an der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn. AUTOR Foto: Privat
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