260 Forschung & Lehre 4|24 VERANTWORTUNG Was bedeutet Verantwortung? Stimmen aus der Wissenschaft Doppelte Herausforderung In der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung steht man derzeit vor einer doppelten Herausforderung. Sie resultiert aus dem Umstand, dass wir momentan nicht nur gesellschaftliche Konflikte beobachten, um Umbrüche und Krisen zu verstehen, sondern dass Konflikte ebenso an den Orten, an denen wir forschen und lehren sichtbarer werden. Während die wissenschaftliche Analyse einem nüchternen Distanzgebot gehorcht, fühlt man sich im Alltag an der Hochschule einem Positionierungszwang ausgesetzt. Die Universitäten haben ihre eigenen Triggerpunkte entwickelt, die den Angehörigen ihre diskursive Eigenlogik aufzwingen. Wir halten umso stärker an unserer Position fest, desto radikaler ein anderer sie infrage stellt. Was wir in unserer Forschung sachlich als eine positionale Verhärtung interpretieren können, involviert uns in unserem universitären Alltag. Gegenüber der öffentlichen Streitkultur mahnen wir Ambiguitätstoleranz oder Multiperspektivität an, doch in den universitären Institutionen führen wir Konflikte zunehmend antagonistisch und mit hoher affektiver Intensität. Sich als Wissenschaftlerin klar und deutlich zu positionieren, ist angesichts der autoritären Gefahren zweifelsohne erforderlich. Doch dabei sollte unser Urteil selbst nicht autoritär werden. Das Gebot der Selbstreflexivität ist gegenüber anderen einfach erhoben. Hingegen ist es umso schwerer, eigene Ressentiments zu erkennen. Ebenso für jene, deren berufliche Arbeit darin besteht, das der anderen zu dekonstruieren. Um mögliche Schäden kümmern Wer als Profi Mathematik macht, beschäftigt sich oft mit abstrakten Dingen, denen man nicht ansieht, ob sie nützlich oder schädlich für die Menschheit sind. Deshalb könnte man der Versuchung erliegen, sich nicht weiter um mögliche Schäden der Produkte dieser Arbeit zu kümmern. Doch Mathematiker und Mathematikerinnen sind auch Mitbürger und Mitbürgerinnen und haben insofern eine Mitverantwortung für die Auswirkungen ihrer Arbeit. Wie man damit umgeht, ist personenabhängig. Ich gebe hier meine persönlichen Prinzipien wieder, von denen ich mich habe leiten lassen. Als ich abstrakte Forschung ohne erkennbaren Anwendungsbezug betrieb, habe ich mich an den Gepflogenheiten guter wissenschaftlicher Praxis orientiert (sauber zitieren, sich nicht mit fremden Federn schmücken etcetera). Als ich mit anwendungsorientierter Forschung beschäftigt war, habe ich darüber hinaus darauf geachtet, dass meine Ergebnisse nicht für militärische oder andere schädliche Zwecke eingesetzt werden können. Als ich populärwissenschaftlich gearbeitet habe, habe ich mich bemüht, Klischees abzubauen, wie zum Beispiel die durch viele Studien widerlegte Meinung, Frauen seien weniger talentiert für mathematisches Denken. Ferner habe ich versucht, gerade auch Studentinnen für die Mathematik zu interessieren. Als Betreuer von wissenschaftlichen Abschlussarbeiten (insbesondere Bachelor-Arbeiten, Master-Arbeiten und Doktor-Arbeiten) habe ich keine Studierenden betreut, die mit staatlichen Stipendien oder vergleichbarer finanzieller Unterstützung aus diktatorischen Staaten zu uns gekommen waren. Unterschiedliche Kontexte Wir leben und arbeiten in unterschiedlichen Kontexten, in denen wir Verantwortung für unser Tun übernehmen müssen. Innerhalb der Wissenschaft gelten die üblichen Sorgfaltspflichten für die Gewinnung methodisch gesicherter Erkenntnisse. Dort aber, wo wir unsere Kenntnisse in die Öffentlichkeit tragen, gilt es (auch sich selbst) klarzumachen, wann man als wissenschaftliche Expertin oder wissenschaftlicher Experte spricht und wann als Person, die politisch Partei ergreift. Das heißt für mich als politischen Philosophen beiChristian Hesse ist Professor für Mathematische Statistik an der Universität Stuttgart und Visiting Professor für Mathematik an der UCLA, Los Angeles. Foto: Ivo Kljuce Foto: FAZ Röth Foto: Kostas Maros Dr . Carolin Amlinger arbeitet als PostDoc am Department Sprach- und Literaturwissenschaften der Universität Basel. Rainer Forst ist Professor für Politische Theorie und Philosophie und Direktor des Forschungszentrums Normative Ordnungen an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
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