Forschung & Lehre 04/2024

Forschung & Lehre 4|24 282 WISSENSCHAFTSGESCHICHTE Nach Kant liegen Gott, Unsterblichkeit und Freiheit außerhalb unserer Erkenntnisgrenzen, sodass wir keinen Gottesbeweis mehr erwarten dürfen. An die Unsterblichkeit der Seele können wir höchstens noch glauben, vor allem werden wir aber keine theoretische Einsicht in die Freiheit unseres Handelns bekommen. Diese Einschränkung unserer Wissensansprüche gilt als das aufgeklärt Kritische an Kants Philosophie. Innerhalb unserer Erkenntnisansprüche liegt vor allem die Physik, der Kant mit seinen Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft ein eigenes Werk gewidmet hat. Das hängt damit zusammen, dass die Physik schon zu Zeiten Kants in erheblichem Maße auf Mathematik beruhte und Mathematik für Kant als zweifellos wissenschaftlich galt. Bereits bei der Biologie machte Kant signifikante Abstriche und benötigte erneut ein eigenes Werk (zweiter Teil der Kritik der Urteilskraft), um unserer Erkenntnis von Lebewesen gerecht zu werden. Das zweckgerichtete Verhalten von Organismen stellte Kant vor besondere Probleme, die sein System zu sprengen drohten. „Metaphysische“ Grundlage und Kausalitätsprinzip Letzteres lag insbesondere daran, dass er Darwins Evolutionstheorie noch nicht kannte und damit nicht die über Mutation und Selektion mechanistische Erklärung biologischer Funktionen (wie etwa der Funktion des Herzens, Blut zu pumpen). Bereinigt man Kant um zeittypische Beschränkungen und zieht man etwa hinzu, dass selbst Psychologie und Soziologie heutzutage mathematische Methoden (Statistik, Wahrscheinlichkeitstheorie) verwenden und empirisch operationalisierbar sind, dann kann man sicherlich sagen, dass all dieses ein noch lebender Kant als Wissenschaften anerkannt hätte oder sogar als Bestätigung dafür werten würde, dass seine Forderungen unser heutiges Verständnis geprägt haben. Der kantische Kern wäre damit aber verfehlt: Denn er war der Meinung, dass jede Wissenschaft neben Mathematik und empirischem Input immer auch eine „metaphysische“ Grundlage hat (beziehungsweise haben müsste), die auf die unabdingbaren Voraussetzungen aller Erkenntnis verweisen. Und diesbezüglich hat Kant anscheinend so ziemlich alles falsch gemacht: Eine der unabdingbaren Voraussetzungen soll beispielsweise der Raum sein, in dem wir uns zwangsläufig orientieren, und zwar der flache Raum, der notwendig euklidisch sei. Doch seit Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie geht man davon aus, dass der reale Raum gekrümmt (nicht-euklidisch) ist, zudem dynamisch als expandierendes Universum. Eine weitere notwendige Bedingung war für Kant das Kausalprinzip, dass alle Ereignisse notwendig durch ein anderes Ereignis verursacht seien. Doch seit der Quantenphysik kennen wir Ereignisse wie den Atomzerfall, der offenbar spontan (indeterminiert) erfolgt. Das transzendentale Subjekt Kants hätte nicht würfeln wollen, könnte man in Übertragung von Einsteins berühmtem Ausspruch „Gott würfelt nicht!“ sagen. Ist Kant empirisch widerlegt? Viele Leute halten daher Kants theoretische Philosophie – also seine Lehren von Zeit, Raum, Substanz und Kausalität – für empirisch widerlegt. Das kann aber nicht bedeuten, dass Kant empirische Prognosen gemacht hätte, die falsifiziert worden sind: Denn seine Philosophie ist nicht selbst eine empirische Theorie, die einfach an der Erfahrung scheitern könnte. Wenn stimmt, dass das expandierende Universum und der Atomzerfall gegen Kants vorgeblich notwendige Bedingungen unserer Erkenntnisse stehen, dann muss Kant gedankliche Fehler in seiner Theorie gemacht haben, und zwar solch gravierende, die auch seine Auffassungen zu Gott, Unsterblichkeit und Freiheit tangieren. Man kann nicht sagen, um es zuzuspitzen, dass zwar Relativitätstheorie und Quantenmechanik Kants Auffassungen von Zeit, Raum und Kausalität widerlegt hätten, dass aber mit Kants praktischer Philosophie weiterhin alles zum Besten stehe, die noch heute den Geist des deutschen Grundgesetzes prägt. Da gibt es ja schließlich einen Zusammenhang. Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang an den Beispielen des Urknalls und des Higgs-Bosons. Daran lässt sich anschließend auch eine Verteidigungsstrategie skizzieren, wie Kant noch immer unser Verständnis von Wissenschaft prägen könnte. Die Erzeugung des Higgs-Bosons im CERN-Teilchenbe- | CORD FRIEBE | Am 22 . April 2024 jährt sich zum dreihundertsten Mal der Geburtstag von Immanuel Kant . In seinem theoretischen Hauptwerk– der Kritik der reinen Vernunft – bestimmte er die unabdingbaren Voraussetzungen und damit auch die unvermeidlichen Grenzen aller unserer Erkenntnisse . Ein Blick auf die Aktualität des großen Philosophen der Aufklärung . Eingeschränkte Ansprüche Wie prägt Kant unser heutiges Verständnis von Wissenschaft? Cord Friebeist Professor fürTheoretische Philosophie an der Universität Siegen. Foto: privat AUTOR

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