4|24 Forschung & Lehre 283 WISSENSCHAFTSGESCHICHTE schleuniger wurde vor etwa zehn Jahren als große Bestätigung des Standardmodells der Elementarteilchenphysik gefeiert. Seither kann als empirisch gesichert gelten, dass die Welt aus elementaren Teilchen (oder Quanten) aufgebaut ist. Sie sind Unteilbares. Der Urknall wiederum gilt als der Weltanfang, als Beginn der Zeit. Beides – Weltanfang und Unteilbares – fasste Kant als Unbedingtes auf. Ganz analog zu Gott, Unsterblichkeit und Freiheit seien ein Anfang, dem keine Zeit vorhergeht, und Elementares, das sich nicht teilen lässt, nicht bedingt. Da es aber nach Kant notwendige Bedingungen aller Erkenntnisse gibt, kann es Unbedingtes folglich gar nicht geben – und der Urknall und Quarks müssten die unvermeidlichen Grenzen unserer Erfahrung genauso überschreiten wie Gott, Unsterblichkeit und Freiheit. Verteidigungsstrategie Die Verteidigungsstrategie läuft wie folgt: Die Rede von den unabdingbaren Voraussetzungen aller Erkenntnisse suggeriert fälschlich, dass Kant ausschließlich notwendige Bedingungen unserer Erkenntnis thematisieren würde. Es gibt aber immer auch empirische Bedingungen, die dadurch charakterisiert sind, dass sie eben nicht notwendig sind, sondern anders hätten sein können. Ein einfaches Beispiel: Bei der Wahrnehmung eines Tisches ist, so Kant, der Raum notwendige Bedingung. Ohne ihn wäre die TischWahrnehmung unmöglich. Der Tisch ist notwendigerweise etwas Räumliches; das hätte nicht anders sein können. In einem stockfinsteren Zimmer hätten wir den Tisch aber auch nicht recht wahrnehmen können. Die Tisch-Wahrnehmung unterliegt also auch noch der empirischen Bedingung, dass das Zimmer hinreichend beleuchtet ist. Solche Bedingungen aber sind kontingent, sie hätten anders sein können. Zwischen Urknall und Quarks auf der einen Seite sowie Gott, Unsterblichkeit und Freiheit auf der anderen Seite gibt es in diesem Lichte nun einen wesentlichen Unterschied: Während letztere transzendental Unbedingtes sind – sie sind etwas Absolutes, Notwendiges –, behaupten Kosmologie und Elementarteilchenphysik den Urknall und die Quarks nur als empirisch Unbedingtes. Von ihnen wissen sie nur a posteriori (durch Erfahrung), und sie sind kontingent: Es hätte auch anders sein können. Physikalisch ist eine Welt denkbar ohne Urknall und Elementarteilchen. Kants Fehler war, hier nicht sauber genug zwischen transzendentalen und empirischen Bedingungen zu unterscheiden. De facto hat er nämlich (in den Antinomien-Kapiteln der Kritik der reinen Vernunft) behauptet, es könne auch nichts empirisch Unbedingtes geben. Das aber folgt überhaupt nicht aus seinem Theorie-Ansatz, wonach es nur transzendental Unbedingtes nicht geben kann. Der Urknall und die Quarks stehen also nicht gegen Kants eigentliche Philosophie. Was dieses Beispiel lehrt, ist, dass unter veränderten empirischen Bedingungen – Teilchenbeschleuniger etcetera – eine neue Perspektive auf Kants theoretische Philosophie entsteht, die ermöglicht, vermeidbare Fehler in Kants Werken zu entdecken, seine Theorie im Lichte neuerer empirischer Erkenntnisse zu rekonstruieren. Kants Blick auf die aktuelle Wissenschaft Umgekehrt zeigen solche Beispiele nicht, dass nicht nach wie vor ein kantischer Blick auf aktuelle Wissenschaften lohnenswert wäre: Liegen ihnen nicht doch metaphysische Anfangsgründe im Sinne Kants zugrunde, ohne welche sie nicht vollständig verständlich wären? Das Wechselspiel zwischen heutiger Wissenschaft und Kants Philosophie könnte dazu führen, das Verhältnis zwischen transzendentalen und empirischen Bedingungen zu aktualisieren. Kantianismus in der gegenwärtigen Wissenschaftstheorie würde dann bedeuten, die nicht-empirische Grundlage vor allem der Physik aufzuzeigen. Etwa so: Urknall, Quarks, expandierendes Universum und Atomzerfall können nur wirklich sein, wenn sie durch einen empirischen Zusammenhang auf unmittelbare Erfahrung (Wahrnehmung) zurückgeführt werden können, für die Kants unabdingbare Voraussetzungen gelten: Zeit, Raum, Substanz und Kausalität. Foto: mauritius images / WorldBookInc
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