Forschung & Lehre 4|24 288 BÜCHER Lesenund lesen lassen Reflektiertes Sprechen Gesellschaft konstituiert sich auch aus dem Streit um Worte (Populismus) und manchmal Begriffe (Demokratie): Da menschliche Erkenntnis die Wirklichkeit nie unmittelbar wahrnimmt, implizieren Wortgefechte immer die grundlegenden Fragen danach, was wir überhaupt als Wirklichkeit wahrnehmen und als ihre Probleme und Lösungen anführen können. In dieser Situation kommt das Buch Armin Nassehis über „gesellschaftliche Grundbegriffe“ gerade recht. Obwohl der Münchener Soziologe sich angetrieben vom Rückenwind der großen historischen und philosophischen Wörterbücher fühlt, will er eine Versachlichung der Debatte gerade nicht dadurch herbeiführen, dass er aus wissenschaftlicher Warte begriffliche Normativität historisch oder systematisch frei- oder gar festlegt. Er versucht vielmehr, den Beitrag der Soziologie zum reflektierten Sprechen dadurch aufzuzeigen, dass er in neunzehn 10-20-seitigen Essays den Gebrauch der (hier kursiv gedruckten) Termini systemisch analysiert: Warum und wie funktionieren Begriffe? Wie und wozu dienen sie der Öffentlichkeit –wobei Öffentlichkeit sich selbst erst in diesem Begriff als eine rein hypothetische Größe erschaffe.Was ist die Funktion des Sprachgebrauchs, wenn jemand Gleichheit fordert oder Macht kritisiert? Dabei indizieren gerade die oft erbittert geführten Debatten um die Begriffshoheit dem Soziologen, dass „man“ überhaupt „keine Kriterien“ mehr „für den Begriffsgebrauch“ habe. Welche Funktion hat die Verwendung eines Konzepts von Fremdheit in jenem Kontext, den die Streitenden (vielleicht zu schnell) als Lebenswelt oder Kultur begriffen zu haben glauben? Die Lektüre lässt einen produktiv über Selbstverständlichkeiten beim Sprechen stutzen und nötigt zu reflektieren, aus welchen tief liegenden Gründen so gesprochen wird, wie gesprochen wird. So verifiziert sich die These des Verfassers, dass Termini ein semantisches Eigenleben haben, über das in der Verwendung willentlich gar nicht mehr verfügt werden könne. Ein aufklärendes Buch. Armin Nassehi: Gesellschaftliche Grundbegriffe. Ein Glossar der öffentlichen Rede. C.H. Beck Verlag 2023, 29,90 €. Professor Dr. Volker Ladenthin, Universität Bonn Generation Boomer Sie waren einfach immer zu viele.“ Die Rede ist von den sog. Boomern, deren Weg Heinz Bude, bis 2023 Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel und selbst zu den Boomern gehörend, nachzeichnet. Was hat sie geprägt? Woran haben sie sich orientiert? Welches Lebensgefühl ist für sie kennzeichnend? Bude analysiert den Generationenzusammenhang und das Denken der Boomer und zeigt auch Unterschiede zwischen West- und Ost-Boomern auf. Er fragt, wie sich gemeinsame Erfahrungen, wie zum Beispiel das Aufkommen von Aids, auf die Einstellung der Boomer ausgewirkt haben. Ein verbindendes Element für diese Generation sei der durch dieÖffnung des Bildungssystems ermöglichte Aufstieg durch Bildung. Dazu hätten volle Klassenzimmer, die reformierte Oberstufe und Massenuniversitäten gehört. Leistung sei neben Technik und Fortschritt zu einem prägenden Begriff geworden. Doch die Boomer hätten sich in der „Leistungsgesellschaft“ in der Konkurrenz unter den Vielen befunden, so dass „irreguläre Episoden“ im Erwerbsleben, wie etwa der viel zitierte studierte Taxifahrer, zu einer „generationsspezifischen Normalität“ gehört hätten. Wenn jetzt die geburtenstarken Jahrgänge 1955 bis 1970, laut Bude derzeit fast 30 Prozent der Bevölkerung, nach und nach aus dem Erwerbsleben ausschieden, sei es gerade wieder ihre Vielzahl, die den Wohlfahrtsstaat vor Herausforderungen stelle. Heinz Bude: Abschied von den Boomern. Hanser Verlag 2024, 22,- €. InaLohaus Karol Sauerland / Detlef Krell (Hg.): Mariupol Reflexionen zur russischen Invasion gegen die Ukraine. Neisse Verlag 2023, 24,- €. DerTitel „Mariupol“ steht symbolisch für die versammelten Beiträge der ukrainischen, polnischen und deutschen Autorinnen und Autoren. Es geht nicht nur um den Verlauf des Krieges, sondern auch um sechs Jahrhunderte russische Geschichte im Hinblick auf den Überfall auf die Ukraine und um Begegnungen mit Menschen, die aus der Ukraine geflüchtet sind. Jens Beckert: Verkaufte Zukunft Warum der Kampf gegen den Klimawandel zu scheitern droht. Suhrkamp Verlag 2024, 28,- €. Der Autor ist Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung und Professor für Soziologie in Köln. Mit „nachdenklichem Realismus auf empirischer Grundlage“ will der Leibniz-Preisträger die Mechanismen aufzeigen, die die unangemessenen Reaktionen auf den Klimawandel in Politik und Gesellschaft verdeutlichen, und Handlungsanstöße geben. Harald Lesch / Cecilia ScorzaLesch / Arndt Latußeck: DieEntdeckung der Milchstraße Die Geschichte und Erforschung unserer Galaxie, C. Bertelsmann Verlag 2023, 30,-€. Im Buch gibt es zwei Erzählstränge, die sich immer wieder kreuzen. Zum einen ist es die Forschungsgeschichte, wie die Menschen versucht haben, das Rätsel der Milchstraße zu enthüllen. Zum anderen wird die Milchstraße selbst beschrieben und ihre Geschichte erzählt. Das Buch enthält auch farbige Abbildungen. BÜCHER ÜBER WISSENSCHAFT
RkJQdWJsaXNoZXIy MjMxMzg=