Forschung & Lehre 12/2024

916 Forschung & Lehre 12|24 KLEIST-BRIEFE Forschung & Lehre: Herr Weiss, Sie sind Germanistikprofessor, 87 Jahre alt und haben kürzlich einen „Jahrhundertfund“ in Ihrem Fachgebiet gemacht, wie manche Medien schreiben. Was treibt Sie an? Hermann F.Weiss: Ich war immer schon so eine Art Detektiv. Das fing damit an, dass ich im Alter von sieben oder acht Jahren auf unserem Kirchhof in Vilich bei Bonn alte Grabsteine entzifferte, die in eine Friedhofsmauer aus dem 19. Jahrhundert eingebettet und gerade noch lesbar waren. Das Entziffern ist bei all meinen Arbeiten wichtig – ich möchte damit an vergangene Realitäten herankommen. Die Neugier hat mich eigentlich nie verlassen. In meiner aktiven Zeit als Germanistikprofessor an der University of Michigan habe ich intensive Quellenforschung betrieben und bin auch viel herumgereist. Seit fast 25 Jahren bin ich nun emeritiert und zwischenzeitlich hatte ich die Literaturforschung hinter mir gelassen. 2003 habe ich zum letzten Mal literaturwissenschaftlich publiziert. Stattdessen habe ich mich als Historiker betätigt und ein mir völlig neues Forschungsfeld entdeckt. Der Zweite Weltkrieg und die Holocaustforschung interessieren mich. Während der Arbeit an meinem Buch über ein niederschlesisches Dorf in den Jahren des Kriegs und der Vertreibung begann ich mich auf ein wenig erforschtes Gebiet zu spezialisieren, nämlich Zwangsarbeitslager für Juden in Schlesien und angrenzenden Regionen. Themen, die wenig untersucht sind, faszinieren mich. Das ist eine Konstante in meinem Forscherleben. F&L: Von Amerika aus haben Sie nun bisher unbekannte Briefe Heinrich von Kleists in einer Bibliothek in Tirol entdeckt. Wie kam es dazu? Hermann F.Weiss: Die Lust am Reisen ist mir abhandengekommen. Aber ich reise gerne per E-Mail oder Telefon und so kam ich auch zu meinem Fund. Es begann damit, dass ich umgezogen bin und meine Vorlässe dem Novalis-Museum Schloss Oberwiederstedt und dem Kleist-Museum in Frankfurt an der Oder überlassen habe. In Vorbereitung darauf habe ich markiert, was spätere Generationen von Forschenden weiterbearbeiten könnten. Das hat in mir eine Sehnsucht geweckt, wieder zur Literaturwissenschaft zurückzukehren. Meine sogenannte „Buol-Kiste“ hatte ich nicht abgegeben, weil ich dachte, dass es da vielleicht noch etwas zu entdecken geben könnte. Ich wusste nämlich schon 1980, dass in einem Südtiroler Schlösschen der Familie Buol-Berenberg ein Archiv lagerte, in dem ich den Nachlass des österreichischem Diplomaten Joseph von Buol-Berenberg vermutete, der mit Kleist befreundet war. Im Sommer 2022 habe ich also das Landesarchiv in Bozen angeschrieben und nachgefragt, ob sie wissen, wo in Südtirol der Nachlass inzwischen sein könnte. Sie schrieben mir direkt zurück, dass es ein Familienarchiv BuolBiegeleben in der Bibliothek des Tiroler Landesmuseums in Innsbruck gebe. Das Archiv war erstmals in einer Übersicht von Archiven in Österreich aus dem Jahr 2018 erschienen. Ich kontaktierte die Bibliothek und steuerte die Suche von meinem Studierzimmer in Dexter, Michigan aus. Zunächst zögerte Nikolaus Bliem, Mitarbeiter der Bibliothek. Er sei ausgelastet. Dann schrieb er mir aber doch, dass er mit einer Grobübersicht zu 289 unerschlossenen Kisten angefangen habe. Er schickte mir alle zwei bis drei Monate einen neuen Teil dieser Grobübersicht. Nach einem Jahr erschienen in der Übersicht plötzlich Namen aus dem Umkreis von Buol. Als ich diese Namen sah, war ich begeistert. Dann, weitere zwei bis drei Monate später, schrieb er mir (inzwischen wusste er, dass ich hinter Kleist her war, aus Sicherheitsgründen hatte ich das anfangs ihm gegenüber nicht erwähnt, bei der Detektivarbeit muss man manchmal schweigsam sein): Es gibt einen Brief von Kleist. Diese Nachricht erhielt ich am 2. Oktober 2023. Und es stellte sich bald heraus, dass in Kiste 142 nicht nur ein Brief war, sondern fünf längere, inhaltsreiche Briefe und nicht etwa Geschäftsbriefe. „Detektive müssen Glück haben“ Wer sucht, der findet Sensationelles in Archiven | IM GESPRÄCH | Ein für allemal Forscher? Wie man Jahrzehnte nach der Emeritierung und der letzten fachwissenschaftlichen Publikation einen Sensationsfund macht, berichtet Hermann F. Weiss, der fünf bisher unbekannte Briefe Heinrich von Kleists entdeckt hat. Hermann F.Weiss war von 1968 bis 2002 Professor für Germanistik an der University of Michigan, Ann Arbor. Foto: Nick Hagen

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