917 12|24 Forschung & Lehre KLEIST-BRIEFE F&L: Was ist seitdem passiert? Hermann F. Weiss: Im vergangenen Jahr habe ich unter Mitarbeit von den drei Kleist-Experten PD Dr. Martin Roussel, Professor Klaus Müller-Salget und Günter Dunz-Wolff unter Ausschluss der Öffentlichkeit die Briefe erschlossen. Sie haben das meiste entziffert, denn meine Augen sind nicht mehr so gut. Ich habe einen langen Kommentar zu den Briefen geschrieben, nachdem ich über zwanzig Jahre lang ganz weg war von der KleistForschung. Ich hatte den Kontakt verloren, kannte die heute aktiven Forscherinnen und Forscher zum Teil nicht. Nun kehrte ich also mit einer wirklichen Sensation zurück, und die Begeisterung der wenigen Eingeweihten war riesig. Sie konnten kaum glauben, dass ich etwas Neues gefunden hatte, wie es seit 1914 nicht mehr gefunden worden war. Die Entdeckung hat mich sehr beglückt und befeuert. Die Leute hier in unserer Seniorengemeinschaft und meine Frau gehörten zu den Wenigen, die von dem Fund wussten. Für unsere Bekannten war meine Arbeit am Material etwas fremdartig. Manche hielten mich für verrückt und sagten: „Aber Hermann, in deinem Alter! Wieso machst du so etwas?“ F&L: Wie haben Sie gearbeitet? Hatten Sie noch Ihre Aufzeichnungen von früher? Hermann F. Weiss: Ich habe mich täglich sehr intensiv und diszipliniert mit dem Material beschäftigt, wie ich es seit Jahrzehnten nicht getan hatte. Dabei stieß ich natürlich auch auf Schwierigkeiten, vieles wurde im Team diskutiert. Wir arbeiteten unter großem Termindruck: Das KleistJahrbuch hat unseretwegen seinen normalen Erscheinungstermin um Monate verzögert. Außerdem war mein KleistArchiv mit allen Notizen schon zu über 90 Prozent in Frankfurt an der Oder im Kleist-Museum. Die haben mir also allerlei Kopien gemacht und zugeschickt. Ich hätte den Kommentar nicht so gut schreiben können, wenn ich nicht schon mehrfach über Buol gearbeitet hätte. Ich musste mich aber mehr als nur ein bisschen wieder in das Thema einarbeiten. F&L: Warum interessieren Sie sich so sehr für Kleist? Hermann F. Weiss: Ich erinnere mich noch gut an einen meiner ersten Erkundungsbriefe. 1977 habe ich an die Universitätsbibliothek Uppsala geschrieben. Ich war in die USA ausgewandert und suchte Dokumente von Achim von Arnim, zu dem ich arbeitete. In meiner Anfrage habe ich auch gleich E.T.A. Hoffmann hinzugefügt, der interessierte mich, und Kleist, der eher so nebenbei. Dann kam die Antwort: Nein, von Achim von Arnim haben wir nichts, aber wir besitzen drei Sachen unter dem Namen Kleist, darunter ein Brief von Heinrich von Kleist. Sie schickten mir bald eine Fotokopie des Briefs. Ich wusste damals noch gar nicht, wie schwer es war, etwas Neues von Kleist zu finden. Es war schnell zu erkennen, dass dieser Brief an die für Kleist neben seiner Schwester wichtigste Frau in seinem Leben gerichtet war, nämlich an Marie von Kleist. Es stellte sich heraus, dass es sich um den einzigen vollständig erhaltenen Brief an sie handelte. Ich konnte in der Kleist-Forschung also gleich mit einer Sensation loslegen, das hat meine Faszination geprägt. Detektive müssen Glück haben: Der Brief war Teil der riesigen Privatsammlung eines schwedischen Diplomaten. Es war Zufall, dass kurz vor meiner Anfrage ein kleiner Teil dieser Sammlung als Leihgabe an die Handschriftenabteilung der Unibibliothek in Uppsala gelangt war. F&L: Ihr Forscherleben erstreckt sich über mehr als 50 Jahre. Ist die Forschung heute anders als zu Beginn Ihrer wissenschaftlichen Karriere? Hermann F. Weiss: Die Umstände haben sich verbessert, etwa die Kommunikationsmöglichkeiten. Allerdings ist die Veränderung nicht so stark, wie viele Technikgläubige denken. Natürlich können wir nun Scans austauschen. Es ist aber deutlich weniger digitalisiert, als man glaubt. Ich nehme an, dass bislang höchstens 20 Prozent der Archivbestände weltweit digitalisiert sind. Es gibt einen hohen Prozentsatz von nicht-digitalisierten Dokumenten. F&L: In denen könnten Sie weitersuchen. Oder meinen Sie, dass Ihre Neugier nun gestillt ist? Hermann F. Weiss: Meine Neugier ist nicht gestillt. Ich werde wohl nur noch wenig schreiben, aber wer weiß. Ich hätte auch nicht vorhersagen können, was im letzten Jahr passiert ist. Meine Frau hofft, dass ich nicht noch einmal so etwas Intensives mache, auf das ich mich konstant konzentrieren muss und wovon ich ständig spreche. Ich vermute, die großen Suchaktionen sind vorbei. Eine Frage, die mich noch beschäftigt, ist, was mit den anderen Briefen von Kleist an Buol passiert ist. Wo sind die? Ich bin ratlos, ich habe an so viele Institutionen geschrieben, überall in Europa, auch in den USA. Es finden sich sicher weitere Sachen von Kleist in privaten Sammlungen im deutschsprachigen Raum. Bisher bin ich allerdings an diese Privatsammlungen nicht herangekommen. Ich weiß von drei Sammlungen, darunter eine in der Schweiz – wo genau sie sich befindet, ist mir unklar. Meine Hoffnung ist, dass die Nachricht von meinem aktuellen Fund dazu führt, dass sich ein Sammler aus Interesse bei mir meldet. Als mögliche Fundorte weiterer Kleist-Schriften und -Briefe sollten auch Frankreich und Italien nicht ausgeschlossen werden. Ich bin sicher, dass es noch mehr zu finden gibt. Junge Forschende sollten unbedingt neugierig sein. Sie sollten eine Neugier kultivieren, die sich nicht zu eng fasst, die auch bereit ist, das Gefundene durch weitere Erkundungen in einen Kontext zu stellen. Das habe ich immer wieder versucht. Die Fragen stellte Charlotte Pardey. Neu entdeckter Brief von Heinrich von Kleist an Joseph von Buol, Stockerau, 22. Mai 1809
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