Forschung & Lehre 12/2024

Forschung & Lehre 12|24 926 LESERFORUM Zustimmung und Widerspruch Heft 10/24: Bekannte Schweigespirale 31. Jahrgang | 7,50$ www.forschung-und-lehre.de Clinician Scientist – quo vadis? Brückenbauer für Forschung, Patientenversorgung und Lehre | ab Seite 758 Künstliche Intelligenz KI in der wissenschaftlichen Forschungspraxis | ab Seite 770 35 Jahre nach dem Transformationsbeginn Die ostdeutsche Wissenschaft | ab Seite 748 Forschung &Lehre alles was die wissenschaft bewegt KONFLIKTKULTUR | ab Seite 728 Großer Akademischer Stellenmarkt | ab Seite 780 10|24 „Confirmation Bias“-Effekt In ihrem Artikel „Bekannte Schweigespirale“ macht die Philosophin M.-S. Lotter zu Recht auf das Problem aufmerksam, dass bestimmte Vorkommnisse wie einige in jüngster Zeit von ihr beobachtete langfristig mit einer Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit verbunden sein können. Konkret geht es um die von manchen Diskursbeteiligten erhobene Forderung nach Gerechtigkeit bei der Sprachverwendung und das mit dem moralischen Ziel, „benachteiligte Gruppen vor den Verletzungen durch Sprache zu schützen“. Diese Forderung hat nach Darstellung der Autorin schon gravierende negative Folgen gehabt. Unter anderem wurden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von geplanten Vorträgen ausgeladen, in Unterschriftslisten prangerte man bestimmte Fachangehörige als „schwarze Schafe“ an, es gab (teilweise erfolgreiche) Versuche einer Be- oder Verhinderung „unliebsamer“ Veröffentlichungen. In einem Fall musste eine Philosophin nach Morddrohungen sogar ihre Professur aufgeben. Aus den skizzierten Vorgängen zieht die Autorin folgendes Fazit: Nur wenn man in den Wissenschaften das Gerechtigkeitsprinzip nicht über die Wahrheit stelle, werde man sie auf Dauer fördern können. In der Frage, wie die Suche nach Wahrheit gelingen kann, vertritt Lotter allerdings eine logisch zu einseitige Position. Sie behauptet nämlich, als Wissenschaftlerin beziehungsweise Wissenschaftler denke man grundsätzlich voreingenommen und suche stets nur nach Sachverhalten, die die eigene Meinung bestätigen, aber nicht nach solchen, die sie widerlegen; deshalb sei Wissenschaft zwangsläufig auf den Austausch mit Andersdenkenden angewiesen. Für diese Position beruft sich Lotter unter anderem auf die Ergebnisse von empirischen Untersuchungen, in denen ein sogenannter „Confirmation Bias“-Effekt nachgewiesen wurde. Hieraus lässt sich jedoch nicht ableiten, dass die Argumentationspraxis von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aller Disziplinen durch diesen Effekt beeinträchtigt ist. Je nachdem, welche Sachthemen in einer Wissenschaft untersucht und welche Methoden dort angewendet werden, gibt es auch unterschiedliche Standards für die Überprüfung eigener Hypothesen inklusive ihrer möglichen Falsifikation. Insofern sollte die Wahrheitssuche meines Erachtens in allen Disziplinen durch eine fundierte wissenschaftslogische Ausbildung stärker als bisher unterstützt werden. Damit würde auch die vorrangige Bedeutung dieser Suche gegenüber Fragen einer gerechten Sprachverwendung deutlicher werden. Professor Dr. Walther Kindt, Universität Bielefeld, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft Heft 10/24: Diskurskultur/Forschungsförderung Navigare necesse est Bei der Lektüre der beiden Beiträge „Bekannte Schweigespirale“ und „Schreiben und Begutachten“ der Ausgabe 10/24 ist mir der Gedanke gekommen: Warum lassen wir ohne ernsthaften Widerstand zu, dass diese ehemals wunderschöne und auch fruchtbare Landschaft verödet, unfruchtbar wird, bürokratisch gelähmt und in der baulichen Substanz immer mehr verfällt? Seit Jahren diskutieren wir die diversen Probleme, doch geändert hat sich nichts. Die Verwaltung des Mangels regiert auch an Exzellenzuniversitäten, und wir wissen alle, dass diese Aktionen zwar eine gute PR für die Forschungsbürokratie sind, aber keine nachhaltige positive Entwicklung an den Hochschulen gefördert haben. Dabei können wir uns angesichts der wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Situation dieses demoralisierende Vorgehen gar nicht leisten. Wir müssten schauen, dass alle klugen Geister, die unser System noch hervorbringen kann, auf Händen getragen und gefördert werden. Wie weiland im alten Rom müssen endlich viele schnelle Boote gebaut und besetzt, die Segel gesetzt und müsste möglichst schnell zu neuen Ufern aufgebrochen werden. Natürlich müssen auch die Basisstationen ertüchtigt und ausgerüstet werden, die Bürokratie drastisch abgebaut und die frei werdenden Mittel direkt in die aktive Forschung gesteckt werden. Wie lange wollen wir der zunehmenden Sklerotisierung der Hochschulen noch zusehen, besonders unter dem zunehmenden wettbewerblichen Druck aus dem Ausland? Wir müssen wieder hinter den Horizont segeln und nicht am Horizont entlang, uns von ängstlichen Regulierungen frei machen und alle, die an unsere Hochschulen berufen werden, entweder nachhaltig und mit Empathie unterstützen oder sie erst gar nicht berufen. Man baut ja auch keine Boote, wenn man wasserscheu ist und nicht segeln möchte! Alle anderen Vorgehensweisen gefährden die Zukunft unserer Gesellschaft. Man kann nicht alles im Ausland einkaufen und zukaufen, wie wir bereits auf etlichen Gebieten schmerzhaft erleben müssen (Batterieforschung, Antibiotikaproduktion). Wir benötigen nationale Expertise, um im Wettbewerb zu bestehen, und unsere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssen die Gewissheit haben, dass das Risiko für ihre Tätigkeit überschaubar ist, genügend Sicherheitswesten bei ihrer Expedition zur Professur zur Verfügung stehen und Risiko sich lohnt. Ansonsten wird ewig am Horizont entlang zum nächstliegenden Hafen gesegelt, ohne jemals wissenschaftliches Neuland zu betreten. Unsere kennzahlenorientierte Forschungskultur erinnert mich immer mehr an das Befahren gut gesicherter Fahrwasser. Das Risiko, auf Grund zu laufen, ist dabei gering, die Wahrscheinlichkeit, disruptive Erkenntnisse zu sammeln, ebenfalls. Navigare necesse est, es muss endlich Wind in die Segel und Risiko belohnt werden. Professor Dr. Bernhard Wolf, Technische Universität München 31. Jahrgang | 7,50$ www.forschung-und-lehre.de Clinician Scientist – quo vadis? Brückenbauer für Forschung, Patientenversorgung und Lehre | ab Seite 758 Künstliche Intelligenz KI in der wissenschaftlichen Forschungspraxis | ab Seite 770 35 Jahre nach dem Transformationsbeginn Die ostdeutsche Wissenschaft | ab Seite 748 Forschung &Lehre alles was die wissenschaft bewegt KONFLIKTKULTUR | ab Seite 728 Großer Akademischer Stellenmarkt | ab Seite 780 10|24

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