12|24 Forschung & Lehre 927 BÜCHER Lesenund lesen lassen Es liegt alles an dir! Die ältere Professorenschaft konnte das, was man unter der Bologna-Reform versteht, anhand ihrer Lehr- und Forschungserfahrungen vor „Bologna“ beurteilen. Woher aber gewinnen jene „Studierenden“ (17), die nach den Bologna-Reformen studiert haben, Kriterien zur Beurteilung ihrer aktuellen Studienbedingungen? Die Herausgeber des sehr anregenden, 418 Seiten umfassenden Sammelbands verfallen zur Beantwortung dieser Frage auf die Idee, Theodor W. Adornos 1959 publizierte „Theorie der Halbbildung“ als Folie zu nutzen. Ob das gut geht? Hatte doch Adorno postuliert, dass die von ihm diagnostizierte Halbbildung nur mit der Allgegenwart des entfremdeten Geists zu erklären sei, sodass, wenn man die Theorie ernst nimmt, auch die Kritik an ihr entfremdet und daher selbst halbgebildete Ideologie wäre. Konsequent diesem Ansatz folgend heißt es in der Einleitung des Sammelbands tatsächlich: „Auch dieser Text entsteht im Netz der Halbbildung selbst.“ (41) In einer Allgegenwart des Falschen gibt es kein Richtiges für die Zukunft, in der „herrschenden Form“ (67) kann es nichts Unbeherrschtes geben, nur die „totalitär[e] Gestalt der Halbbildung, die kein Außerhalb von ihr zulässt“ (40)? Theoretisch so festgezurrt, würde der Sammelband also nur bestätigen, was Adorno an der Ordinarienuniversität der 50er-Jahre meinte feststellen zu können und sich jeglich Neuem und aller Zukunft verschließen: Die „Universität heute kann die Hoffnungen [auf Bildung] nicht mehr erfüllen“ (332). Adornos Paradox vom totalen Verblendungszusammenhang, der auch die Kritik an ihm verblendet, lösen einige der über 40 Autorinnen und Autoren dadurch auf, dass sie sich als die kritisch Geläuterten aus dem exkludieren, was sie den anderen, den „Ohnmächtigen“ (34) und „Erdrückten“ (39) zuschreiben, dass ihnen nämlich der „Betrug nicht greifbar“ (34) und „selbst nicht bewusst“ (40) sei. Allerdings entziehen sich andere Autorinnen und Autoren der konsequenten Strenge des gesellschaftskritischen Ansatzes und formulieren ihre aspektreichen Erfahrungen, klugen Analysen und auch Vorschläge. Diese „neue Perspektive auf den Unialltag“ (61) reicht von der Aufforderung, „in der und gegen die Universität verschiedene Praxen aus[zubilden], sich abseits kapitalistischer Logiken […] Wissen anzueignen“ (116) bis zur elaborierten Theorie des „Schummelns“, das gewissermaßen als Widerstand „zu einer Repolitisierung des Studiums beitragen“ (166) könne. Die „systemkritische Mitarbeit in Akkreditierungen“ könne subversiv zur „Erlangung sensibler Informationen“ (190) genutzt werden. Gefordert werden die „Abschaffung des Urheberrechts oder die Vergesellschaftung von Verlagen“ (354) und neue „solidarische Verbindungen“ (345) gegen das Konkurrenzdenken. Antithetisch dazu ist die Aufforderung zu lesen, die „neoliberale Anrufung des Subjekts beim Wort zu nehmen“: „Es liegt alles an dir.“ (221) Neben der „radikalen Abrechnung mit weißer Sozialwissenschaft“ (239) steht der Rat, den Universitäten „die Ressourcen zu entziehen und sie in ein alternatives Bildungssystem zu investieren“ (246), etwa in eine „Genossenschaftsuniversität“ (290) – wobei, mit Adorno, zu fragen wäre, wieso die totale Allgegenwärtigkeit (39) normativer Strukturen dann plötzlich doch ein alternatives Bildungswesen zulassen könnte? Einmal beklagt die Mitherausgeberin, dass die deutsche Universität nur „Ort der Aus-Bildung“ (35) wäre. Immerhin, das wäre doch schon mal was! Hier wächst doch Hoffnung. Clara Gutjahr, Lisa Marie Münster, Lukas Geisler, David Morley, Moritz Richter (Hg.): Organisierte Halbbildung. Studieren 25 Jahre nach der Bologna-Reform. Bielefeld 2024, 39 Euro. Professor Volker Ladenthin (em.), Universität Bonn Aleida Assmann, Jan Assmann: Gemeinsinn. Der sechste, soziale Sinn. C. H. Beck Verlag, 262 Seiten, 25 Euro. Das Forscherpaar Assmann zeigt die politischen und kulturellen Rahmenbedingungen für Gemeinsinn auf und wie wichtig letzterer zur Stärkung unserer Demokratie ist. Eva Illouz: Explosive Moderne. Suhrkamp Verlag, 447 Seiten, 32 Euro. Medien, Politik und das Berufsleben triggern Gefühle wie Angst, Enttäuschung, Wut, Scham und Liebe. Die Soziologin Eva Illouz erkundet den Gefühlshaushalt des modernen Menschen, indem sie Kulturprodukte von Proust bis Netflix analysiert. Venki Ramakrishnan: Warum wir sterben. Dieneue Wissenschaft des Alterns und die Suche nach dem ewigen Leben. Klett-Cotta Verlag, 352 Seiten, 28Euro. Der Nobelpreisträger für Chemie Venki Ramakrishnan berichtet über die jüngsten Durchbrüche in der wissenschaftlichen Forschung über das Altern, das Sterben und denTod. Branko Milanovi : Visionen der Ungleichheit. Von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart. Suhrkamp Verlag, 443 Seiten, 34€. Der frühere Chef der Forschungsabteilung der Weltbank Branko Milanovi schaut auf die Entwicklung der Ungleichheit im Lauf der Jahrhunderte und welche ökonomischen Lehren dabei jeweils denTon angegeben haben. Walter Isaacson: Einstein. Die Biografie. C. Bertelsmann Verlag, 832 Seiten, 34 Euro. Walter Isaacson lässt ein umfassendes Gesamtbild des Menschen und Wissenschaftlers Albert Einstein entstehen. BÜCHER ÜBER WISSENSCHAFT
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