Forschung & Lehre 9/2019

838 T E X T, B I L D , T O N Forschung & Lehre 9|19 Text, Bild, Ton „Ich übergebe am späten Abend eines vielbewegten Lebens dem deutschen Publikum ein Werk, dessen Bild in unbestimmten Umrissen mir fast ein halbes Jahrhundert lang vor der Seele schwebte. In man- chen Stimmungen habe ich dieses Werk für unaus- führbar gehalten: und bin, wenn ich es aufgegeben, wieder, vielleicht unvorsichtig, zu demselben zu- rückgekehrt. Ich widme es meinen Zeitgenossen mit der Schüchternheit, die ein gerechtes Mißtrauen in das Maaß meiner Kräfte mir einflößen muß. (...) Wenn durch äußere Lebensverhältnisse und durch einen unwiderstehlichen Drang nach verschiedenar- tigem Wissen ich veranlaßt worden bin mich mehre- re Jahre und scheinbar ausschließlich mit einzelnen Disciplinen: mit beschreibender Botanik, mit Ge- ognosie, Chemie, astronomischen Ortsbestimmun- gen und Erd-Magnetismus als Vorbereitung zu einer großen Reise-Expedition zu beschäftigen; so war doch immer der eigentliche Zweck des Erlernens ein höherer. Was mir den Hauptantrieb gewährte, war das Bestreben die Erscheinungen der körperlichen Dinge in ihrem allgemeinen Zusammenhange, die Natur als ein durch innere Kräfte bewegtes und be- lebtes Ganzes aufzufassen. Ich war durch den Um- gang mit hochbegabten Männern früh zu der Ein- sicht gelangt, daß ohne den ernsten Hang nach der Kenntniß des Einzelnen alle große und allgemeine Weltanschauung nur ein Luftgebilde sein könne. Es sind aber die Einzelheiten im Naturwissen ihrem in- neren Wesen nach fähig wie durch eine aneignende Kraft sich gegenseitig zu befruchten. (...) So führt den wißbegierigen Beobachter jede Classe von Er- scheinungen zu einer anderen, durch welche sie be- gründet wird oder die von ihr abhängt. Es ist mir ein Glück geworden, das wenige wissen- schaftliche Reisende in gleichem Maaß mit mir ge- theilt haben: das Glück, nicht bloß Küstenländer, wie auf den Erdumseglungen, sondern das Innere zweier Continente in weiten Räumen und zwar da zu sehen, wo diese Räume die auffallendsten Con- traste der alpinischen Tropen-Landschaft von Süd- amerika mit der öden Steppennatur des nördlichen Asiens darbieten. Solche Unternehmungen mußten, bei der eben geschilderten Richtung meiner Bestre- bungen, zu allgemeinen Ansichten aufmuntern, sie mußten den Muth beleben unsre dermalige Kennt- niß der siderischen und tellurischen Erscheinungen des Kosmos in ihrem empirischen Zusammenhange in einem einigen Werke abzuhandeln. Der bisher unbestimmt aufgefaßte Begriff einer physischen Erd- beschreibung ging so durch erweiterte Betrachtung, ja, nach einem vielleicht allzu kühnen Plane, durch das Umfassen alles Geschaffenen im Erd- und Him- melsraume in den Begriff einer physischen Weltbe- schreibung über. (…) Man hat es oft eine nicht erfreuliche Betrachtung genannt, daß, indem rein litterarische Geistespro- ducte gewurzelt sind in den Tiefen der Gefühle und der schöpferischen Einbildungskraft, alles, was mit der Empirie, mit Ergründung von Naturerscheinun- gen und physischer Gesetze zusammenhängt, in we- nigen Jahrzehenden, bei zunehmender Schärfe der Instrumente und allmäliger Erweitrung des Hori- zonts der Beobachtung, eine andere Gestaltung an- nimmt; ja daß, wie man sich auszudrücken pflegt, veraltete naturwissenschaftliche Schriften als unles- bar der Vergessenheit übergeben sind. Wer von einer ächten Liebe zum Naturstudium und von der erha- benen Würde desselben beseelt ist, kann durch nichts entmuthigt werden, was an eine künftige Ver- vollkommnung des menschlichen Wissens erinnert. Viele und wichtige Theile dieses Wissens, in den Er- scheinungen der Himmelsräume wie in den telluri- schen Verhältnissen, haben bereits eine feste, schwer zu erschütternde Grundlage erlangt. In an- deren Theilen werden allgemeine Gesetze an die Stelle der particulären treten, neue Kräfte ergründet, für einfach gehaltene Stoffe vermehrt oder zerglie- dert werden. Ein Versuch, die Natur lebendig und in ihrer erhabenen Größe zu schildern, in dem wellen- artig wiederkehrenden Wechsel physischer Verän- derlichkeit das Beharrliche aufzuspüren, wird daher auch in späteren Zeiten nicht ganz unbeachtet blei- ben. Aus der Vorrede zu Alexander von Humboldts „Kosmos. Entwurf einer physischenWeltbeschreibung“, 1844 „Die Natur als belebtes Ganzes auffassen“ Vor 250 Jahren wurde Alexander von Humboldt geboren

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