Forschung & Lehre 09/2023

9|23 Forschung & Lehre STANDPUNKT 649 Wir leben heutzutage in Vielvölkerstädten. Was können wir aus der Geschichte multiethnischer Städte lernen? Die Städte Andalusiens im mittelalterlichen Spanien werden häufig als Modell für ein multikulturelles Zusammenleben von Muslimen, Christen und Juden gepriesen. Córdoba beispielsweise war in seiner Blütezeit eine multiethnische Weltstadt von bis zu 300.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Dem wird kritisch entgegengehalten, dass die andalusische Geschichte auch Hinrichtungen, Pogrome und Bürgerkriege kennt. Doch trotz dieser Gewaltepisoden gab es in Andalusien viele Jahrzehnte und sogar Jahrhunderte sozialer Stabilität und Harmonie, und daher lohnt es sich, von Andalusien zu lernen. Aus neueren Forschungen wissen wir viel mehr über die Alltagskultur und das Festwesen. Viele religiöse Feiertage waren in Andalusien eine Angelegenheit für die gesamte Gemeinschaft. Juden verteilten zur Feier des Fastenbrechens Brot an ihre muslimischen und christlichen Nachbarn. Muslime nahmen gern an fünf christlichen Feiertagen teil: Weihnachten, Neujahr, Tagundnachtgleiche, Gründonnerstag und Johannistag, der in der Regel mit Pferderennen stattfand. Man tauschte Glückwünsche, Gebäck und kleine Geschenke aus oder man traf sich an Straßenständen. Ganz ähnliche Praktiken, manche religiös, manche rein kulturell, kennen wir aus der langen Geschichte des Nahen Ostens. In Deutschland gibt es nur ein einziges Fest, das über religiöse und ethnische Grenzen hinweg gefeiert wird, und das ist Weihnachten. Die meisten von uns haben kein Bewusstsein dafür, wann die Feste anderer Gruppen stattfinden. Würden wir uns wie mittelalterliche Andalusierinnen und Andalusier verhalten, würden wir daran denken, unseren Nachbarn zu Hause oder am Arbeitsplatz ein frohes jüdisches Jom Kippur, ein frohes muslimisches Zuckerfest, ein frohes orthodoxes Osterfest, ein frohes iranisches Neujahr oder ein frohes chinesisches Neujahr zu wünschen. Vielleicht bringen wir sogar selbst kleine Geschenke mit, verbringen ein wenig Zeit miteinander und kehren dann zu unserer eigenen kulturellen Gruppe zurück, mit der wir uns normalerweise umgeben. Koexistenz braucht solche Routinen des Respekts. In den alten multiethnischen Städten waren sie Teil der moralischen Erziehung. Nicht in Form von Geboten, sondern als eine Praxis, mit der man aufwächst und die man über Jahre hinweg lernt. Routinen des Respekts sollten eine lebenslange Aufgabe sein, auch für uns heute. Wir brauchen sie, denn wir sind nicht immer gut darin, Trennungen zu überwinden. Gewohnheiten des respektvollen Handelns helfen uns, unsere eigenen kulturellen Zirkel zu verlassen und über das bloße Reden über Respekt hinauszugehen. Das Modell Andalusiens zeigt, dass dies möglich ist und dass es Gemeinschaften stabilisiert. Das ist ermutigend. Dag Nikolaus Hasse ist Professor für Geschichte der Philosophie an der Universität Würzburg. Routinen des Respekts Foto: Maria Bayer

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