Forschung & Lehre 09/2023

9|23 30. Jahrgang | 7,50$ www.forschung-und-lehre.de Forschung &Lehre alles was die wissenschaft bewegt Besoldung W-Gehälter in 2023 | ab Seite 672 Vielfalt Diversitätsstrategien an Hochschulen | ab Seite 674 Großer Akademischer Stellenmarkt | ab Seite 704 Forschung Ein Plädoyer für „inkrementelle“ Wissenschaft | ab Seite 668 GLOBAL HEALTH | ab Seite 656

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9|23 Forschung & Lehre STANDPUNKT 649 Wir leben heutzutage in Vielvölkerstädten. Was können wir aus der Geschichte multiethnischer Städte lernen? Die Städte Andalusiens im mittelalterlichen Spanien werden häufig als Modell für ein multikulturelles Zusammenleben von Muslimen, Christen und Juden gepriesen. Córdoba beispielsweise war in seiner Blütezeit eine multiethnische Weltstadt von bis zu 300.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Dem wird kritisch entgegengehalten, dass die andalusische Geschichte auch Hinrichtungen, Pogrome und Bürgerkriege kennt. Doch trotz dieser Gewaltepisoden gab es in Andalusien viele Jahrzehnte und sogar Jahrhunderte sozialer Stabilität und Harmonie, und daher lohnt es sich, von Andalusien zu lernen. Aus neueren Forschungen wissen wir viel mehr über die Alltagskultur und das Festwesen. Viele religiöse Feiertage waren in Andalusien eine Angelegenheit für die gesamte Gemeinschaft. Juden verteilten zur Feier des Fastenbrechens Brot an ihre muslimischen und christlichen Nachbarn. Muslime nahmen gern an fünf christlichen Feiertagen teil: Weihnachten, Neujahr, Tagundnachtgleiche, Gründonnerstag und Johannistag, der in der Regel mit Pferderennen stattfand. Man tauschte Glückwünsche, Gebäck und kleine Geschenke aus oder man traf sich an Straßenständen. Ganz ähnliche Praktiken, manche religiös, manche rein kulturell, kennen wir aus der langen Geschichte des Nahen Ostens. In Deutschland gibt es nur ein einziges Fest, das über religiöse und ethnische Grenzen hinweg gefeiert wird, und das ist Weihnachten. Die meisten von uns haben kein Bewusstsein dafür, wann die Feste anderer Gruppen stattfinden. Würden wir uns wie mittelalterliche Andalusierinnen und Andalusier verhalten, würden wir daran denken, unseren Nachbarn zu Hause oder am Arbeitsplatz ein frohes jüdisches Jom Kippur, ein frohes muslimisches Zuckerfest, ein frohes orthodoxes Osterfest, ein frohes iranisches Neujahr oder ein frohes chinesisches Neujahr zu wünschen. Vielleicht bringen wir sogar selbst kleine Geschenke mit, verbringen ein wenig Zeit miteinander und kehren dann zu unserer eigenen kulturellen Gruppe zurück, mit der wir uns normalerweise umgeben. Koexistenz braucht solche Routinen des Respekts. In den alten multiethnischen Städten waren sie Teil der moralischen Erziehung. Nicht in Form von Geboten, sondern als eine Praxis, mit der man aufwächst und die man über Jahre hinweg lernt. Routinen des Respekts sollten eine lebenslange Aufgabe sein, auch für uns heute. Wir brauchen sie, denn wir sind nicht immer gut darin, Trennungen zu überwinden. Gewohnheiten des respektvollen Handelns helfen uns, unsere eigenen kulturellen Zirkel zu verlassen und über das bloße Reden über Respekt hinauszugehen. Das Modell Andalusiens zeigt, dass dies möglich ist und dass es Gemeinschaften stabilisiert. Das ist ermutigend. Dag Nikolaus Hasse ist Professor für Geschichte der Philosophie an der Universität Würzburg. Routinen des Respekts Foto: Maria Bayer

650 I NHALT Forschung & Lehre 9|23 Inhalt STANDPUNKT Dag Nikolaus Hasse 649 Routinen des Respekts NACHRICHTEN 652 HU Berlin reagiert auf Belästigungsvorwürfe GLOBAL HEALTH Im Gespräch: Eva Rehfuess 656 Gesundheitliche Chancengleichheit weltweit Herausforderungen und Ziele von Global Health Im Gespräch: Jonas Schreyögg 660 “Eine ethische Verpflichtung der Industrieländer” Zur Finanzierung von globaler Gesundheit Johanna Hanefeld | Sophie Müller 662 Partnerschaftlich international handeln Die Rolle der nationalen Public-Health-Institute als zentrale Akteure Im Gespräch: Walter Karlen 664 Mit digitalisierter Medizin zum Ziel? Der Einsatz von künstlicher Intelligenz im globalen Gesundheitswesen Im Gespräch: Matthias Havemann 666 Den Blick nach außen und innen schärfen Global Health im Medizinstudium FORSCHUNG Ralf Ludwig 668 Kleine Schritte, große Wirkung Ein Plädoyer für „inkrementelle“ Wissenschaft PROFESSUR Ulrike Preißler 672 DHV-Besoldungsbarometer 2023 Bayern und Baden-Württemberg zahlen die höchsten Grundgehälter DIVERSITÄT Susanne Schmidt | Anna-Maria Mazurczak 674 Vielfalt an Hochschulen Zur Bedeutung und Umsetzung von Diversitätsstrategien Diversität Vielfalt und Diversität sind geläufige Schlagworte in den Zielformulierungen der Hochschulen. Vielerorts sind die Ziele bereits zur Leitungssache erklärt worden. Einblicke in eine Studie, die untersucht, was konkret getan wird, welche Vorhaben noch ausstehen und woran deren Umsetzung hakt. Vielfalt an Hochschulen . . . . . . . . . 674 Fragen zur Gesundheit des Menschen kennen in einer immer komplexer werdenden Welt keine Ländergrenzen mehr, sie stellen sich gleichermaßen lokal wie global. Unter anderem der Klimawandel, Kriege, Gefahren durch neue Infektionen, die wachsende Schere zwischen Arm und Reich haben massive Auswirkungen auf die Gesundheit und das Wohlergehen der Menschen weltweit. Was können wir gesellschaftlich und technologisch tun, um diese Herausforderungen zu meistern? Vor welchen Aufgaben stehen die Wissenschaften? Schwerpunkt..................656 Global Health Foto: mauritius images/James Boast Foto: mauritius images/Science Photo Library /Tek Image

9|23 Forschung & Lehre I NHALT 651 Ukraine-Krieg Karriere-Praxis Jahrzehntelange Forschungskooperationen und gemeinsame Partnerschaftsprogramme wurden durch die Sanktionen als Folge des Ukraine-Kriegs an deutschen Hochschulen ausgesetzt. Einschätzungen zur aktuellen Situation von Professorinnen und Professoren verschiedener Slawistik-Institute in Deutschland. Zerstörte Kooperationen . . . . . . . . 676 Forschungsinstitute Über eine gewisse Zeit konzentriert forschen und sich darüber mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus ganz unterschiedlichen Fachrichtungen austauschen: Das ist das Ziel von Institutes of Advanced Study (IAS). Ein Gespräch über deren Eingliederung in das Hochschulwesen. Institutes of Advanced Study. . . . . 678 Die Juniorprofessur wurde im Jahr 2002 mit der fünften Novelle des deutschen Hochschulrahmengesetzes eingeführt. Das Ziel war, jüngeren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ohne Habilitation unabhängige Forschung und Lehre zu ermöglichen. Ein Rückblick und Ausblick auf einen noch jungen Karriereweg. Erfolgsmodell Juniorprofessur?. . . 690 Foto: picture alliance/ZB|Stefan Sauer UKRAINE-KRIEG Friederike Invernizzi 676 Zerstört, eingefroren und ausgesetzt Was passiert an und mit den Slawistik-Instituten seit dem russischen Überfall auf die Ukraine? FORSCHUNGSINSTITUTE Im Gespräch: Giovanni Galizia 678 “Insel der Seligen” Institutes of Advanced Study und ihre Bedeutung im deutschen Hochschulwesen WISSENSCHAFTSGESCHICHTE Felix Kämper 682 Immer wider die Unvernunft Vor fünfzig Jahren starb Max Horkheimer, Vordenker der kritischen Sozialforschung KARRIERE-PRAXIS Katharina Lemke 690 Erfolgsmodell Juniorprofessur? Rück- und Ausblick auf einen noch jungen Karriereweg an Universitäten RUBRIKEN 655 Fundsachen 670 Kleine Fächerkunde 684 Ergründet und entdeckt 686 Zustimmung und Widerspruch 688 Lesen und lesen lassen 692 Entscheidungen aus der Rechtsprechung 694 Preise 696 Habilitationen und Berufungen 697 Steuerrecht aktuell 698 Drei Fragen an– Prof. Nicole Deitelhoff 702 Impressum 703 Leitungspositionen 704 Akademischer Stellenmarkt 734 Exkursion 735 Enigma 736 Am Ende optimistisch? – Nicole Kemper Foto: mauritius images /TPG RF / Kzenon

652 NACHRICHTEN Forschung & Lehre 9|23 Nachrichten Täglich aktuelle Nachrichten auf www.forschung-und-lehre.de HU Berlin reagiert auf Belästigungsvorwürfe Die Humboldt-Universität (HU) zu Berlin untersucht Anschuldigungen des Machtmissbrauchs durch zwei Dozenten. Nach wiederholten Anschuldigungen mehrerer Studentinnen, dass sich ein Dozent der Universität ihnen gegenüber missbräuchlich und sexuell übergriffig verhalten habe, stellte die HU diesen bis auf Weiteres frei und entband ihn laut Mitteilung für das kommende Wintersemester von seinen Lehrverpflichtungen. Damit verschärfte die Universität eine bereits kurz zuvor getroffene Maßnahme für das laufende Semester, dass der Dozent seine Sprechstunden mit Studierenden nur online und im Beisein der Gleichstellungsbeauftragten durchführen dürfe. Die Hochschulleitung bat Betroffene, sich an die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte, die Hochschulleitung oder die Studierendenvertretungen zu wenden. Mögliche weitere Fehlverhalten könne sie so möglichst schnell aufklären und gegebenenfalls rechtliche Maßnahmen ergreifen. Der Dozent hat sich bislang noch nicht zu den Anschuldigungen geäußert. Öffentlich bekannt wurden die Anschuldigungen Anfang August. Kurz darauf folgte ein weiterer Vorwurf des möglichen Machtmissbrauchs. Einem Professor der HU, der auch an der Freien Universität (FU) Berlin lehrt, wird vorgeworfen, sich körperlich übergriffig gegenüber Frauen verhalten zu haben. Darüber berichteten zunächst Studierendenvertretungen der beiden Berliner Universitäten in einer gemeinsamen Pressemitteilung. Sie berufen sich dabei auf einen Essay einer Wissenschaftlerin von Mai 2023, die auf einem Sommerfest einen körperlich sexualisierten Übergriff erlebt habe. Sie schreibt darin, dass der Mann dafür bekannt sei, Studentinnen zu belästigen. Mehrere Quellen bestätigten laut „Tagesspiegel“, dass es sich dabei um den besagten Professor handele. Die Leitung der HU hat demnach Ermittlungen eingeleitet, es laufe ein Disziplinarverfahren. Näher wolle sich die Universität derzeit nicht dazu äußern. Auch die FU überprüfe den Fall und habe den Professor infolge der Anschuldigungen bereits von der Lehre entbunden. Der Beschuldigte habe sich bislang wie auch der andere beschuldigte Dozent nicht zu den Vorwürfen geäußert. Die Studierendenvertretungen forderten eine „kontinuierliche Aufarbeitung“ der beiden Fälle an der HU und eine Auseinandersetzung „mit dem strukturellen Charakter von Machtmissbrauch an dieser Universität“ sowie eine Thematisierung des Problems „an allen Universitäten“. EU-Kommission gegen Deadline fürTierversuche Die Europäische Kommission hat sich gegen eine gesetzliche Frist für das Ende von Tierversuchen ausgesprochen. Stattdessen solle der Fokus darauf liegen, Alternativen zu Tierversuchen zu fördern und Tierversuche so schrittweise ersetzen zu können. Solche Alternativen könnten zum Beispiel In-vitro-Modelle sein, die auf menschlichen oder tierischen Zellen und Geweben basieren, oder Computermodelle. Langfristig sollen Tierversuche auf diese Weise vermieden werden können. Unter Forschungsorganisationen stieß die Entscheidung der Kommission auf Zustimmung. Vertreterinnen und Vertreter aus der Forschung hätten demnach befürchtet, dass der Wissenschaft notwendige Tierversuchsmethoden entzogen würden, bevor ausgereifte Alternativen zur Verfügung stünden. Eine entsprechende Stellungnahme veröffentlichte etwa die „League of European Research Universities“ (LERU). Aktiv geworden war die EU-Kommission, weil die öffentliche Kritik an Tierversuchen zugenommen hatte. Bürgerorganisationen und das Europäische Parlament forderten verbindliche Regeln zur schnelleren Reduktion oder Abschaffung von Tierversuchen in Forschung und Lehre. Der jüngsten Bürgerinitiative, die die offizielle Überprüfung und Stellungnahme der EU-Kommission erforderlich machte, stimmten 1,2 Millionen Menschen zu. Die Allianz der Wissenschaftsorganisationen in Deutschland hatte sich darauf hin gegen einen generellen Ausstieg aus der Verwendung von Tieren in der Forschung ausgesprochen. Dieser sei nicht wissenschaftlich begründet.

9|23 Forschung & Lehre NACHRICHTEN 653 Täglich aktuelle Nachrichten auf www.forschung-und-lehre.de KOMMENTAR Mehr Sicherheit Die geopolitischen Spannungen haben in der Politik zu einer veränderten Sichtweise auf Forschungskooperationen und Tätigkeiten ausländischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an deutschen Hochschulen geführt. Die Bundesforschungsministerin geht mit nahezu wöchentlichen Äußerungen voran. Fast ist man geneigt zu sagen: endlich. Dabei geht es zurzeit insbesondere um verstärkte Spionage aus China. Spionage ist allerdings keine Erfindung der Chinesen, sie gibt es seit Urzeiten, überall auf der Welt. Deutsche Sicherheitsbehörden warnen die Regierung seit Jahren vor der Gefahr des Ausspähens in Wissenschaft und Forschung. Und deutsche Hochschulen haben die Chancen und Risiken internationaler Zusammenarbeit gegeneinander abwägen und differenziert entscheiden müssen. Es bedarf für sie jedoch mehr als vager Empfehlungen zu internationalen Wissenschaftskooperationen und einer steten Betonung des hohen Guts der Wissenschaftsfreiheit. Was Not tut, sind praxistaugliche Richtlinien zu grundsätzlichen Fragen der Zusammenarbeit. Mehr Beratungsleistungen durch Kompetenzzentren wie zum Beispiel den DAAD können da helfen. Die angedachten Etatkürzungen bei internationalen Austauschorganisationen sind das Gegenteil von erhöhter Sicherheit. Gerade weil Wissenschaft den Austausch über Ländergrenzen hinweg braucht, ist es nötig, mehr für die Sicherheit unserer Forschung zu tun – mit klarer Position, Strategie, aber auch Geld. Yvonne Dorf Diskussion über Spionage aus China hält an Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger will die Zusammenarbeit mit China in der Wissenschaft auf den Prüfstand stellen. „Multipolarität, Cyberbedrohungen und systemische Rivalität gerade mit China nehmen stetig zu. All das hat Konsequenzen für Wissenschaft und Forschung“, schrieb die FDP-Politikerin in einem Beitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. „Die Zeitenwende macht einen strategischeren Ansatz erforderlich, der das hohe Gut der Wissenschaftsfreiheit mit unseren sicherheitspolitischen Interessen in Einklang bringt.“ Missbrauch von Forschung, ausländische Einflussnahme und vor allem der ungewollte Abfluss von Know-how und Technologie ins Ausland seien immer stärkere Risiken für die Wissenschaft. Um diese besser zu schützen, sei ein sensiblerer Umgang mit sicherheitsrelevanter Forschung notwendig. Gleiches gelte für einen verantwortungsbewussten Umgang mit Wissenschaftsfreiheit. „Ausländische Akteure nutzen bestehende Spielräume zum Nachteil unserer nationalen Sicherheit“, sagte Stark-Watzinger laut Bericht mit Blick auf einzelne chinesische Forschende, die an deutschen Universitäten arbeiteten. Die Präsidentin des Landesamts für Verfassungsschutz hatte kurz zuvor vor chinesischer Spionage durch Gastwissenschaftlerinnen und Gastwissenschaftler an Universitäten und Hochschulen in Baden-Württemberg gewarnt. „Die Gewinnung von Erkenntnissen durch menschliche Quellen findet noch immer statt. Nicht nur durch russische Dienste. Vor allem in der Wissenschaft ist auch China vorne mit dabei“, sagte Beate Bube den Zeitungen „Heilbronner Stimme“ und „Südkurier“. Das Bundeskabinett hatte zuvor ein Strategiepapier zu den Beziehungen mit der Volksrepublik China beschlossen. Die Zusammenarbeit in der Wissenschaft solle „werte- und interessengeleitet“ weiterentwickelt werden. Die Zusammenarbeit müsse aber unter dem Grundsatz der Freiheit der Wissenschaft erfolgen. Illegitime Einflussnahme und einseitiger Wissens- und Technologietransfer müssten minimiert werden. Auch der Allgemeine Fakultätentag (AFT) hatte sich positioniert und Empfehlungen für wissenschaftliche Kooperationen mit China veröffentlicht. „Forschung & Lehre“ berichtete über die Papiere in der August-Ausgabe. Kürzungen bei Wissenschaftseinrichtungen geplant Der Deutsche Akademische Austauschdienst soll 2024 weniger Geld vom Auswärtigen Amt erhalten, seinem wichtigsten Geldgeber. Die Grundfinanzierung des DAAD soll im kommenden Jahr auf 215,3 Millionen Euro sinken. 2023 sind noch 222 Millionen Euro vorgesehen. Seitens des zweitwichtigsten Geldgebers des DAAD, dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), soll nach den aktuellen Plänen nicht gespart werden. Ebenfalls von Kürzungen in der Kulturpolitik des Auswärtigen Amtes betroffen sind die Alexander von Humboldt-Stiftung (AvH) und das Goethe-Institut, die 2024 laut den Berichten rund 54 Millionen Euro (2023: 56) beziehungsweise etwa 226 Millionen Euro (2023: 235) bekommen sollen. Im Koalitionsvertrag sind eigentlich jährliche Zuwächse von drei Prozent für DAAD, AvH und GoetheInstitut vorgesehen. Der Bundeshaushalt für 2024 ist noch nicht beschlossen, Änderungen sind in den kommenden Monaten möglich. Die politischen Verhandlungen dazu beginnen im September. Im vergangenen Jahr konnten geplante Kürzungen im Haushalt 2023 für das BMBF und das Auswärtige Amt nach massiven Protesten aus der Wissenschaft und langen parlamentarischen Verhandlungen abgewendet werden. Öffentliche Kritik an den Sparplänen für 2024 äußerten unter anderem bereits Bildungspolitikerinnen und Bildungspolitiker der CDU, der SPD und der Grünen. So sagte Kai Gehring (Grüne), Vorsitzender des Bildungs- und Forschungsausschusses, dem „Tagesspiegel“ gegenüber: „Stipendienprogramme zu kürzen, würde Chancen von Talenten und Spitzenkräften im In- und Ausland schwächen und damit auch die so sinnvolle Internationalisierung unseres Wissenschaftsstandorts.“

654 NACHRICHTEN Forschung & Lehre 9/23 Promotionsstipendien: BMBF erhöht Fördersätze Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) erhöht die Fördersätze von deren Promotionsstipendien. Von Oktober 2023 bis Herbst 2025 sollen diese laut Ministerium in drei Stufen um insgesamt 300 Euro auf 1 650 Euro pro Monat steigen. Außerdem wird zum kommenden Semester die Regelförderungszeit von derzeit zwei auf drei Jahre angehoben. Dafür kann diese künftig nur noch um sechs Monate statt wie bisher um bis zu ein Jahr verlängert werden. Es ist die erste Erhöhung der Sätze seit 2016. Sie soll den seither gestiegenen Lebenshaltungskosten gerecht werden. Das BMBF reagiert damit auf Druck der 13 Begabtenförderungswerke. Die Zahl der Geförderten wird künftig sinken. Für die Anpassung stellt das BMBF keine zusätzlichen Mittel zur Verfügung, sodass das bestehende Budget der Förderungswerke von insgesamt 342,9 Millionen Euro auf etwa 15 bis 20 Prozent weniger Stipendien verteilt werden wird. Weniger Neu-Promotionen Im Jahr 2022 haben 205 300 Personen ein Promotionsverfahren an einer deutschen Hochschule durchlaufen. Das sind laut Statistischem Bundesamt zwei Prozent mehr als 2021. Die Zahl der Neu-Promovierenden habe jedoch abgenommen: Nur 16 Prozent der Promovierenden (33 100 Personen) haben laut der Statistik-Behörde im Berichtsjahr 2022 ihre Promotion begonnen. Das seien neun Prozent weniger als im Vorjahr. Die meisten der Promovierenden waren laut Statistischem Bundesamt in der Humanmedizin beziehungsweise den Gesundheitswissenschaften (26 Prozent) tätig, gefolgt von der Mathematik und den Naturwissenschaften (zusammen 23 Prozent), den Ingenieurwissenschaften (18 Prozent) sowie den Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (zusammen 16 Prozent). Mehr Geld für Geförderte über Bafög Die Förderbeträge nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz – kurz Bafög – sind im vergangenen Jahr im Durchschnitt leicht gestiegen. 2022 wurden 630 000 Personen so unterstützt – 7 000 beziehungsweise ein Prozent mehr als im Vorjahr, wie das Statistische Bundesamt mitteilte. Sie erhielten laut Mitteilung durchschnittlich 592 Euro pro Monat. Damit sei der durchschnittliche Förderbetrag pro Person 30 Euro oder 5,1 Prozent höher als im Vorjahr gewesen. Die Ausgaben für Bafög-Leistungen lagen insgesamt bei drei Milliarden Euro. Berliner Hochschulen erhalten mehr Geld Die Hochschulen in Berlin sollen bis 2028 jährlich fünf Prozent mehr Geld vom Land bekommen. Darauf haben sich die Hochschulleitungen und die Berliner Senatsverwaltung für Wissenschaft bei den Verhandlungen um die neuen Hochschulverträge geeinigt. Das teilte die Landeskonferenz der Rektoren und Präsidenten der Berliner Hochschulen (LKRP) mit. Beschlossen wurden demnach auch ein „substanzieller Ausbau“ der Lehrkräftebildung sowie bessere Beschäftigungsbedingungen für Promovierende und Postdocs. Der Entwurf bedarf laut Mitteilung noch der Zustimmung des Senats und des Abgeordnetenhauses. Täglich aktuelle Nachrichten auf www.forschung-und-lehre.de Neue Forschungsprojekte starten in Erasmus-Förderung Die Europäische Kommission will über „Erasmus+“ in diesem Jahr 159 Projekte in Drittländern unterstützen. Damit will die EU-Behörde laut eigenen Angaben in dieser Förderrunde insbesondere die Modernisierung und Qualität der Hochschulbildung in Drittstaaten voranbringen und den Weg zu einer besseren Zusammenarbeit der geförderten Länder mit Europa ebnen. Insgesamt sollen 2 500 Personen aus rund 130 Ländern von der Finanzierung profitieren. Besonderes Augenmerk wird auf Geförderte aus der Ukraine gelegt. Die Europäische Union hat fünf Millionen Euro zusätzlich bereitgestellt, um ein Projekt für ukrainische Universitäten zu initiieren. Dieses Projekt, genannt „DigiUni“, soll das digitale Bildungsumfeld in der Ukraine stärken. Über die Förderung soll eine leistungsstarke digitale Plattform entstehen, die vor allem Studierenden zugute komme, die aufgrund von Flucht oder Binnenvertreibung Schwierigkeiten in ihrem Studium hätten. Das Erasmus-Programm wurde vor 36 Jahren gegründet und ist eines der bekanntesten und beliebtesten EUProgramme. Bislang haben fast 13 Millionen Menschen daran teilgenommen. Von 2021 bis 2027 stellt die EU Behörde 26,2 Milliarden Euro dafür bereit. Großbritannien bekommt neues Institut für Pandemieforschung Mit einem neuen Forschungszentrum, dem „Vaccine Development and Evaluation Centre“ (VDEC), will sich Großbritannien besser auf Pandemien vorbereiten. In dem Institut auf dem Gelände des nationalen Forschungslabors „Porton Down“ in Südengland sollen laut Gesundheitsbehörde „UK Health Security Agency“ (UKHSA) über 200 renommierte Forschende in rund 100 Projekten jährlich neue Impfstoffe entwickeln, wie die Deutsche Presse-Agentur berichtete. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sollen die tödlichsten Krankheitserreger mit Pandemiepotenzial erforschen, für die es noch keinen Impfstoff gibt oder bei denen die Immunisierung verbessert werden könnte, zum Beispiel Vogelgrippe-, Mpox- oder Hantaviren. Das neue Zentrum sei in seiner Ausstattung und Spezialisierung einzigartig und solle Großbritannien auch helfen, sich auf die „Krankheit X“ vorzubereiten. Gemeint ist damit laut Bericht ein unbekannter Erreger, der eine Pandemie auslösen könnte. Orientierung für die Forschung sollen bereits bekannte Viren wie das Corona-Virus geben. Eine klinische Phase-1-Studie für eine Impfung gegen das Krim-KongoFieber laufe bereits – eine Krankheit, die durch ein über Zecken übertragenes Virus verursacht werde und in etwa 30 Prozent der Fälle tödlich ende. Es wäre der weltweit erste Impfstoff gegen den Erreger. Die Forschenden sollen zudem häufig vorkommende bakterielle Infektionen mit schwerwiegenden Folgen wie Tuberkulose untersuchen.

9|23 Forschung & Lehre FUNDSACHEN 655 Fundsachen Patriotismus „Ich wünsche mir einen FortschrittsPatriotismus für Deutschland. Wir haben eine beachtliche Grundlagenforschung, aber wir brauchen mehr Investitionen. Wir benötigen eine gemeinsame Bewegung aus Politik und Wirtschaft.“ Miriam Meckel, Professorin für Corporate Communication an der Universität St. Gallen und geschäftsführende Gesellschafterin der ada Learning GmbH; zitiert nach:The Pioneer Briefing, 14. August 2023. Missverständnis „Viele Leute erliegen einem grundsätzlichen Missverständnis über das Wesen der Wissenschaft. Sie glauben, Wissenschaft sei, was ein Wissenschaftler sagt.Wissenschaft besteht aber nicht aus schlauen Sätzen, die aus den Mündern von Professoren purzeln. Wissenschaft ist die Methode, mit der man der Welt ihre Geheimnisse entreißt, das Verfahren, mit dem man aus Daten Erkenntnisse gewinnt. Der Kern der Wissenschaft liegt gerade darin, dass ihre Erkenntnisse weitgehend unabhängig von Menschen und Kulturen sind. Sie werden durch Beobachtungen und Experimente erhoben und können jederzeit durch neue Beobachtungen und Experimente revidiert werden.“ Reto U. Schneider, Wissenschaftsjournalist; zitiert nach: Die Zeit, 7. August 2023. Noten „Mich lässt der Gedanke an Alternativen zur Notenvergabe an den Universitäten nicht los. Rückmeldung muss sein, aber die starke Notenfixierung verhindert oft tiefer gehende Lehr- und Lernprozesse und setzt falsche Anreize. Im Ausland ist man da oft weiter. Ich bin mir sicher, dass auch die Arbeitgeber sich rasch umstellen werden. Beziehungsweise dass sie schon heute deutlich offener sind für eine neue Feedback-Kultur, als wir an den Hochschulen denken.“ Timo Meynhardt, Professor für Wirtschaftspsychologie und Führung an der Handelshochschule Leipzig; zitiert nach: Zeit Wissen Drei, 20. Juli 2023. Gehirne „Wir reduzieren die Teams oder wir können mit dem gleichen Team deutlich mehr Aufgaben machen, weil halt jeder auf einmal sechs Hände hat oder drei Gehirne.“ FrankThelen, deutscher Unternehmer und Investor, zu den Veränderungen durch Künstliche Intelligenz in seinem Unternehmen; zitiert nach: The Pioneer Briefing, 7. August 2023. Aushalten „Die Zusammenhalts-Mahnerei macht es schwieriger, mit ganz normalen Konflikten wie dem Heizungsgesetz auch ganz normal umzugehen. (...) Es gibt bei allen Konflikten – ob es nun um Interessen, Ideen oder auch Identitäten geht – Gewinner und Verlierer. Der Clou der Demokratie ist nicht, dass alle immer gewinnen, sondern dass Verlierer immer eine Chance bekommen, die Dinge anders zu gestalten. Zweifelsohne ist die Bereitschaft, sich mit der Verliererrolle abzufinden, voraussetzungsvoll: Man muss bereit sein, es weiterhin in einem politischen Raum mit anderen auszuhalten, deren Ideen man falsch findet oder deren Interessen man partout nicht teilt. Aber Aushalten ist etwas anderes als Zusammenhalten: Es hält auch den Raum für Konflikte offen.“ Jan-Werner Müller, Professor an der Princeton University; zitiert nach: Die Zeit, 24. August 2023. Zuhören „Ich würde schon sagen, dass man aufpassen sollte, mit wem man redet. Das Publikum ist wichtig. Ich spreche anders mit anderen Zuhörern. Man will ja nicht einfach nur Sachen loswerden, sondern auch versuchen, zu überzeugen. Also muss man schauen: Wie viel Kenntnis haben die Zuhörer? Sind sie im Thema drin oder nicht? Was muss man alles erklären? Nicht jeder sollte jedem alles sagen, klar. Aber mich stört die Fokussierung auf die ethnische Herkunft und das Geschlecht als Rechtfertigung oder als Ausschlusskriterium. Das finde ich fatal. Susan Neiman, Direktorin des Einstein Forums; zitiert nach: Die Welt, 25. August 2023. Welt „Wie die Welt von morgen aussehen wird, hängt in großem Maß von der Einbildungskraft jener ab, die gerade jetzt lesen lernen.“ Astrid Lindgren (1907–2002) Wahrheit „Der Philosoph, der in der Öffentlichkeit eingreifen will, ist kein Philosoph mehr, sondern Politiker; er will nicht mehr nur Wahrheit, sondern Macht.“ Hannah Arendt (1906-1975)

Foto: mauritius images/Science Photo Library /Tek Image Gesundheitliche Chancengleichheit weltweit Herausforderungen und Ziele von Global Health

Forschung & Lehre: Frau Professorin Rehfuess, was ist unter dem Begriff Global Health zu verstehen? Eva Rehfuess: Die Corona-Pandemie hat eindrücklich gezeigt, dass Gesundheit und gesundheitliche Krisen im globalen Kontext betrachtet werden müssen. Schon einige Jahre vor diesem Ereignis, im Jahr 2003, hatte das Vorgängervirus SARS-CoV-1 in einzelnen Ländern wirtschaftlichen Schaden verursacht, was der globalen Gesundheit unter dem Stichwort „Health Security“ auch mehr politische Aufmerksamkeit verlieh. Aber Global Health geht weit über Epidemien oder Pandemien hinaus. Ihr Ziel ist die Verbesserung von Gesundheit und die Schaffung gesundheitlicher Chancengleichheit für alle Menschen weltweit. Global Health hat grenzübergreifende Gesundheitsprobleme im Blick und verfolgt Lösungsansätze auf Bevölkerungsebene – Prävention, Gesundheitsförderung und Gesundheitsschutz sowie Stärkung von Gesundheitssystemen – ebenso wie die medizinische Behandlung von Patientinnen und Patienten. Global Health vereint die Stärken der biomedizinischen Tradition, z.B. der Infektiologie, mit denen der Public-Health-Tradition, unter anderem der Hygiene und Epidemiologie. Sie fördert interdisziplinäre Zusammenarbeit weit über die Gesundheitswissenschaften hinaus. Im Zuge der Dekolonialisierung der Forschung bedarf Global Health der Kooperation von Forscherinnen und Forschern aller Länder auf Augenhöhe. F&L: Inwiefern spielt die Dekolonialisierung bei der Global-Health-Forschung eine Rolle? Eva Rehfuess: Dies ist ein klarer Gegenentwurf zu einer Vielzahl von Global-Health-Forschungsprojekten, bei denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des globalen Südens zwar einen Großteil der Arbeit leisten, bei der Einwerbung und Leitung von Forschungsprojekten und bei der Veröffentlichung von Forschungsergebnissen aber nur eine untergeordnete Rolle spielen. Auch Forschungsprioritäten werden derzeit noch stark durch Institutionen, Geldgeber und Forscherinnen und Forscher des globalen Nordens vorgegeben, manchmal vorbei an tatsächlichen Forschungsbedarfen und -interessen. Radikalere Ansätze einer Dekolonialisierung der Forschung stellen deshalb auch die Global-HealthStrukturen infrage und fordern einen grundlegenden Neuaufbau der globalen Gesundheitsforschung. F&L: Was sind weitere große GlobalHealth-Herausforderungen? Eva Rehfuess: Global Health umfasst eine enorme Bandbreite an Themen. Dazu gehören klassische Infektionskrankheiten wie Polio oder Tuberkulose, die zwar auch in Ländern des globalen Südens zurückgehen, aber eine weltweite Herausforderung bleiben. Ebenso befasst sich Global Health mit Themen wie Gewalt und Unfällen, aber auch mit nicht-übertragbaren Erkrankungen wie Diabetes, Krebs und psychischen Erkrankungen, die in vielen Ländern auf dem Vormarsch sind. Im besten Fall entstehen einige dieser Krankheiten gar nicht, was die Bedeutung von Risikofaktoren unterstreicht – ob Umweltrisiken wie Luftverschmutzung und mangelnde Versorgung mit sauberem Trinkwasser oder „Lifestyle“- Risiken wie Rauchen und Alkoholkonsum. Hinzu kommen übergreifende Herausforderungen im Gesundheitsbereich wie antimikrobielle Resistenzen, die Sicherstellung einer allgemeinen Gesundheitsversorgung („Universal Health Coverage“) und die Migration von Gesundheitsfachkräften, ebenso gesellschaftliche Trends wie die Urbanisierung und die Entwicklung von Mega-Cities sowie die Digitalisierung mit ihren vielfältigen Chancen und Risiken. F&L: Wie können angesichts dieser vielfältigen Herausforderungen überhaupt Prioritäten gesetzt werden? Eva Rehfuess: Eine politische Grundlage bieten unter anderem die Strategie der Bundesregierung zur Globalen Gesundheit aus dem Jahr 2020, die EUStrategie zur Globalen Gesundheit aus dem Jahr 2022 und die Nachhaltigkeitsstrategie der Vereinten Nationen für den Zeitraum 2015 bis 2030. Als entscheidende wissenschaftliche Grundlage dient vor allem die Berechnung der Krankheitslast, die aufzeigt, wie viele gesunde Lebensjahre jedes Jahr durch bestimmte Krankheiten und Risikofaktoren verloren gehen, und zwar global, für Regionen, für Länder und sogar für einzelne Städte. Allerdings kann die Berechnung der Krankheitslast nur das gut abbilden, was leicht messbar ist, weshalb viele grundlegende Ursachen von Krankheiten („Root Causes“) weitgehend übersehen werden. Forschung zum Verständnis und vor allem zur Bekämpfung dieser grundlegenden Ursachen benötigt deutlich mehr Aufmerksamkeit. Die Zusammenhänge zwischen Armut, Bildung und Gesundheit sind bekannt und belegt. Zu den grundlegenden Ursachen für Krankheiten und deren veränderter Verteilung gehören aber auch der Klimawandel und die Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Dabei liegt das Augenmerk nicht länger nur auf der Gesundheit des Menschen, stattdessen stehen zunehmend die wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen Mensch, Tier und Planet – als „One Health“ oder „Planetary Health“ 9|23 Forschung & Lehre GLOBAL HEALTH 657 | IM GESPRÄCH | Die globalen Herausforderungen an die Gesundheitssysteme wachsen weltweit. Dazu gehören sowohl Krisensituationen wie die Corona-Pandemie als auch der Einfluss von gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen. Ein Interview. Eva Rehfuess ist Professorin an der Medizinischen Fakultät der LMU München und hat den Lehrstuhl für Public Health und Versorgungsforschung inne. »Global Health hat grenzübergreifende Gesundheitsprobleme im Blick und verfolgt Lösungsansätze auf Bevölkerungsebene.« Foto: Foto: Norman Pretschner.

bezeichnet – im Fokus. Eine weitere grundlegende Ursache sind die sogenannten kommerziellen Determinanten von Gesundheit, die jedoch zumindest in Deutschland kaum wahrgenommen und noch weniger beforscht werden. Sie beschreiben die Systeme, Praktiken und Wege, über die kommerzielle Akteure, vor allem multinationale Firmen, die Gesundheit und die gesundheitliche Chancengleichheit in vielen Lebensbereichen beeinflussen. F&L: Wie sollten Forscherinnen und Forscher komplexe Global-Health-Zusammenhänge analysieren und Handlungsmöglichkeiten entwickeln? Eva Rehfuess: Global Health begreift Gesundheit und Krankheit als Zusammenspiel von Determinanten auf individueller Ebene (z.B. Gene, Verhalten), auf lokaler und nationaler Ebene (z.B. Umweltbedingungen, Gesundheitssystem) und auf internationaler Ebene (z.B. Güterströme, Migration). Daraus ergeben sich vielfältige Forschungsfragen – eine interdisziplinäre und grenzübergreifende Perspektive kann hier entscheidend zu einem besseren Verständnis von Gesundheitsproblemen und zur Identifizierung von erfolgversprechenden Lösungsansätzen beitragen. F&L: Können Sie ein Beispiel nennen? Eva Rehfuess: Ein Beispiel ist der teils rasant steigende Anteil der Bevölkerung mit Übergewicht und Fettleibigkeit in fast allen Ländern der Welt. Biomedizinische Forschung in diesem Kontext widmet sich z.B. den physiologischen Prozessen, die zu HerzKreislauferkrankungen und anderen nachgelagerten gesundheitlichen Problemen führen, oder entwickelt und testet neue pharmakologische oder chirurgische Ansätze zur Bekämpfung von Fettleibigkeit. Public-Health-Forschung untersucht mit epidemiologischen Methoden die Entwicklung von Übergewicht im Zeitverlauf oder nutzt verhaltenswissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse zur Unterstützung von gesunden Ernährungsmustern und zur Förderung von Bewegung. F&L: Welche Rolle spielt der internationale Blick auf Global Health? Eva Rehfuess: Global-Health-Forschung entsteht erst dann, wenn grenzübergreifend und integrierend vorgegangen wird. So befassen wir uns in einem laufenden Forschungsprojekt im Westkap, Südafrika, gemeinsam mit südafrikanischen Kolleginnen und Kollegen mit dem sogenannten „Double Burden of Malnutrition“, also dem gleichzeitigen Auftreten von Unter-, Mangel-, Fehl- und Überernährung, oft innerhalb der gleichen sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen. Dabei geht es darum, wie lokale, nationale und globale Ernährungssysteme und -umgebungen dazu führen, dass Bewohnerinnen und Bewohner der Townships viel zu wenig Obst und Gemüse zu sich nehmen und übermäßig Fastfood konsumieren. Gleichzeitig erforschen wir, mit welchen Maßnahmen diese Ernährungssysteme verändert werden können, ob durch vereinfachten Zugang zu gesunden Lebensmitteln, durch multimediale Informationskampagnen, durch Lebensmittelkennzeichnung oder durch freiwillige Selbstverpflichtung multinationaler Akteure wie Nestlé und McDonalds. Bei der Entwicklung umfassender Lösungsansätze sind neben vielen weiteren Disziplinen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Geographie, aus den Agrarwissenschaften, aus der Stadtplanung und aus den Politikwissenschaften gefragt. Zusätzlich wichtig ist die Implementierungsforschung, die Fragen rund um die Nutzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen in Politik und Praxis und zur Skalierung von Maßnahmen untersucht. F&L: Und wie setzen Sie dies in ihrer eigenen Global-Health-Forschung um? Eva Rehfuess: Im Vergleich zu Ländern wie Großbritannien, den USA und den Niederlanden ist die GlobalHealth-Forschung und -Lehre in Deutschland wenig entwickelt. Allerdings wurden in den letzten Jahren diverse Initiativen zu ihrer Stärkung lanciert, unter anderem der Aufbau von afrikanisch-deutschen Forschungsnetzwerken für Gesundheitsinnovationen in Subsahara-Afrika und der Global Health Hub zur sektorenübergreifenden Vernetzung unterschiedlicher Global-Health-Akteurinnen und -Akteure. Bemerkenswert ist die German Alliance for Global Health Research (GLOHRA), die die Zusammenarbeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aller Disziplinen vorantreibt, innovative und sektorenübergreifende Forschungsprojekte fördert und im Rahmen der Global Health Academy den wissenschaftlichen Nachwuchs unterstützt. GLOHRA ist innerhalb von nur drei Jahren auf mehr als 1000 Mitglieder angewachsen, was das große Interesse der akademischen Gemeinschaft am Thema widerspiegelt. F&L: Warum sollten sich wissenschaftliche Einrichtungen in einem Hochtechnologieland wie Deutschland mit Global Health befassen? Eva Rehfuess: Erstens ergeben sich durch den Global-Health-Ansatz neue Chancen und Impulse für Innovationen. Zweitens wächst mit dem politischen Engagement der Bundesregierung in Global Health – unter anderem ist Deutschland der größte Geldgeber bei der Weltgesundheitsorganisation und richtet den jährlichen World Health Summit aus – der Bedarf an wissenschaftlicher Politikberatung. Drittens unterstützt Global Health den Auftrag der Universitäten, junge Menschen zu kritischen, verantwortungsbewussten und selbstständigen „Global Citizens“ auszubilden und macht den Standort für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler internationaler und attraktiver. Ein starkes deutsches Global-HealthWissenschaftssystem kann somit einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung drängender globaler Herausforderungen leisten, sei es in der Prävention und Behandlung psychischer Erkrankungen, im Umgang mit den gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels oder bei der Vorbereitung auf neue Viren. Die Fragen stellte Friederike Invernizzi. 658 GLOBAL HEALTH Forschung & Lehre 9|23 »Im Vergleich zu Ländern wie Großbritannien, den USA und den Niederlanden ist die Global-HealthForschung und -Lehre in Deutschland wenig entwickelt.«

660 GLOBAL HEALTH Forschung & Lehre 9|23 “Eine ethische Verpflichtung der Industrieländer” Zur Finanzierung von globaler Gesundheit Forschung & Lehre: Herr Professor Schreyögg, Sie forschen zur Finanzierung und Qualität von Gesundheitseinrichtungen. Wie stark ist der Widerspruch zwischen der Gesundheit Einzelner und wirtschaftlichen Interessen? Jonas Schreyögg: Die Weiterentwicklung von Gesundheitssystemen ist immer eine soziale wie wirtschaftliche Frage. Es geht darum, vorhandene Ressourcen so einzusetzen, dass sie einen größtmöglichen Nutzen für Patientinnen und Patienten haben. Dafür eine Lösung zu finden, ist die zentrale Aufgabe in der Gesundheitsökonomie. F&L: Der Fokus der Gesundheitsversorgung liegt nicht auf der Vorbeugung von Krankheiten, sondern ihrer Heilung. Viele Firmen verdienen damit ihr Geld. Ist ihr Einfluss zu groß? Jonas Schreyögg: Der Grund für eine zurückhaltende Präventionspolitik liegt aus meiner Sicht darin, dass Prävention nur teilweise dem Gesundheitswesen zugeordnet werden kann. Vieles betrifft individuelle Entscheidungen, gerade in der sogenannten Primärprävention. Diese zielt auf die Förderung eines gesunden Lebensstils ohne direkten Bezug zu einer Krankheit, etwa über eine ausgewogene Ernährung oder regelmäßige Bewegung. Diese Art der Gesundheitsförderung ist schlechter quantifizierbar als die Vorsorge von einzelnen Erkrankungen. Politikerinnen und Politiker können die Notwendigkeit von Verhaltensänderungen dadurch schwer begründen. Hinzu kommt, dass die Politik in Deutschland insgesamt zurückhaltend darin ist, Menschen zu sagen, was sie zu tun haben. Sie konzentriert sich auf die Sekundärprävention, zu der etwa Vorsorgeuntersuchungen wie Krebsscreenings oder Schutzimpfungen gehören. Eine mutige Primärprävention würde mit weniger Geld viel mehr bewirken. F&L: Wie kann eine staatliche Gesundheitsförderung ohne Vorschriften aussehen? Jonas Schreyögg: In Singapur hängen auf Litfaßsäulen staatliche Empfehlungen, wie sich Bürgerinnen und Bürger verhalten sollten, um möglichst gesund zu leben. Solche Kampagnen würden sich auch für Deutschland lohnen. Die staatlichen Gesundheitsausgaben pro Kopf sind in Ländern mit einer starken Informationspolitik oftmals niedriger als etwa in Deutschland. Während der Corona-Pandemie haben wir an der Impfkampagne gesehen, dass Deutschland dabei sehr zurückhaltend ist. Im öffentlichen Straßenbild war von der Impfkampagne kaum etwas zu sehen. Länder wie Großbritannien haben dagegen sehr prominent im öffentlichen Raum für das Impfen geworben. Dies hat sicherlich auch die hohe Impfquote dort befördert. F&L: Deutschland kann sich vergleichsweise hohe Ausgaben leisten. Viele Länder, mit denen Deutsche kooperieren, können das nicht. Welche Verantwortung haben Firmen hierzulande für die Gesundheit von Menschen in Ländern, in denen sie etwa Produktionsstätten haben? Jonas Schreyögg: Pharmaunternehmen sehen sich sowohl als Unternehmen als auch als Entwickler. Sie haben ein handfestes wirtschaftliches Interesse, Profit zu machen und schaffen gleichzeitig in vielen Fällen vor Ort Arbeitsplätze, produzieren Arzneimittel und verbessern den Zugang zur Gesundheitsversorgung. Durch Regulierung muss dies in geordnete Bahnen gelenkt werden. Wenn Firmen beispielsweise klinische Studien für ein Arzneimittel in einem Land durchführen, sollte die Bevölkerung im Anschluss auch Zugang zu diesem Arzneimittel haben. F&L: Wie sollte diese Regulierung aussehen? Jonas Schreyögg: Bestimmte Erkrankungen sind wirtschaftlich attraktiver | IM GESPRÄCH | Soziale und wirtschaftliche Fragen hängen bei der Gestaltung von Gesundheitssystemen eng zusammen. Welche Konsequenzen hat das für die Gesundheitsversorgung und welche Verantwortung tragen Staaten und Firmen? Fragen an einen Gesundheitsökonomen. Jonas Schreyöggist Professor und wirtschaftlicher Direktor des Hamburg Center for Health Economics an der Universität Hamburg. Foto: Universität Hamburg

9|23 Forschung & Lehre GLOBAL HEALTH 661 als andere. Prominente Beispiele sind HIV oder Malaria. Die Erkrankungen treten vor allem in Ländern auf, in denen die Wirtschafts- und Zahlungskraft nicht hoch ist. Es gibt zu wenig Geld für die Entwicklung der Impfstoffe. Die Bill & Melinda Gates Foundation hat mehrere Milliarden Euro in die Hand genommen, um diese Lücke zu füllen. Das sollte jedoch keine private Stiftung übernehmen müssen. Die Staatengemeinschaft sollte gemeinsam die Erforschung der Impfstoffe finanzieren und die Forschungsaktivitäten koordinieren. Dies ist eine ethische Verpflichtung der Industrieländer. F&L: Die Staatengemeinschaft kann zu vielen Gesundheitsfragen nur Rahmenkonzepte entwickeln. Deren Umsetzung liegt meist auf nationaler Ebene. Sie haben selbst für die WHO gearbeitet – was kann die Staatengemeinschaft tun, damit Vorhaben effektiver umgesetzt werden? Jonas Schreyögg: Mitgliedstaaten müssen sich besser austauschen. Die Probleme haben sich auf europäischer Ebene während Corona etwa darin gezeigt, dass jedes Land andere Regeln für die Kontrolle von Reisenden hatte. In der Kontrolle von Pandemien brauchen wir einheitliche Mechanismen. Der Ausbau der EU-Gesundheitsbehörde (ECDC) ist ein wichtiger Schritt, um das zu erreichen. Politikerinnen und Politiker sollten außerdem auf Staatenebene beschlossene Vorhaben mutig in nationale Gesetze übertragen. Das passiert häufig nicht und führt dazu, dass sich Verwaltungshandeln verselbstständigt. F&L: Können Sie ein Beispiel nennen? Jonas Schreyögg: Die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) etwa legen die EU-Staaten sehr unterschiedlich aus. Bei EU-Projekten muss ich für meine Forschung in dem einen Land ein kurzes Formular ausfüllen, um an bestimmte Daten zu kommen. In dem anderen Land muss ich mich dafür verrenken und dann sind die Daten auch noch unvollständig, oder jedes Land stellt unterschiedliche Daten bereit. Ein großer Teil meiner aktuellen Arbeitszeit würde entfallen, wenn ich etwa Krankenhausdaten über den geplanten Europäischen Raum für Gesundheitsdaten (EHDS) zusammenführen könnte. F&L: Wie erreichen wir mehr Einheit im europäischen Datenaustausch? Jonas Schreyögg: Der Rat der Europäischen Union, in dem die nationalen Ministerinnen und Minister zusammenkommen, müsste sich der Aufgabe annehmen und gegenüber den Ländern auf gesetzliche Vereinheitlichungen drängen. Das ist aufwendig, aber notwendig. Wir müssen die Hürden für eine effektive europäische Zusammenarbeit dringend abbauen, um zu anderen Wissenschaftsstandorten wie den USA aufzuschließen. F&L: Gesundheitssysteme lassen sich nicht 1:1 aufeinander übertragen. Dafür sind die nationalen Anforderungen zu unterschiedlich. Was können Länder auf europäischer und internationaler Ebene dennoch voneinander lernen, um ihr Gesundheitssystem möglichst qualitativ und effizient zu gestalten? Jonas Schreyögg: Länder – darunter auch Deutschland – sollten die ambulante und stationäre Versorgung stärker integrieren. In Deutschland beispielsweise werden diese Bereiche der Gesundheitsversorgung noch größtenteils getrennt betrachtet. Krankenhäuser werden zu sehr als rein stationäre Versorger gesehen. Wir sollten sie stattdessen als hybride Zentren betrachten. Viele Operationen wie zum Beispiel ein Leistenbruch könnten bei den meisten Menschen ambulant behandelt werden. Stationär aufgenommen werden müssten nur Menschen, die sich im Anschluss an einen Eingriff nicht selbst versorgen können. Dadurch würden Personalressourcen gespart, die an anderer Stelle gebraucht werden könnten. Auch wäre die Behandlung niedrigschwelliger, als sie es bislang ist. In vielen Ländern wie Großbritannien ist das schon die Regel. In Deutschland gehen wir über die Krankenhausreform in diese Richtung. Es ist ein kultureller Wandel, der Zeit benötigt. F&L: Wo können Länder ansetzen, deren Gesundheitssystem noch sehr schwach ist? Jonas Schreyögg: Zunächst brauchen Länder einen Gesundheitskatalog. Er definiert, welche Leistungen Bürgerinnen und Bürger über den Staat erhalten und welche nicht. Das sorgt dafür, dass sie die staatlichen Leistungen eher in Anspruch nehmen. Beim Aufbau einer Infrastruktur kommt es ganz darauf an, auf welchem Stand ein Gesundheitssystem ist. Es beginnt unter anderem bei einer Grundversorgung mit Wasser und Nahrungsmitteln. Public-Private-Partnerships spielen eine wichtige Rolle in der Entwicklung und Finanzierung einer medizinischen Infrastruktur, auch weil staatliche Organisationen wie die der UN nicht in allen Ländern dieselbe Akzeptanz haben. Der Neuaufbau eines Gesundheitssystems kann auch eine Chance sein. Singapur ist dafür ein Beispiel. Das Land hat sein Gesundheitssystem 1984 nach den Empfehlungen einiger Harvard-Professoren nach aktuellen wissenschaftlichen Standards komplett neu aufgesetzt. In den europäischen Ländern sind die Gesundheitssysteme über Jahrzehnte historisch gewachsen und können nur Schritt für Schritt an neue Anforderungen angepasst werden. Die Fragen stellte Katrin Schmermund. Fortschritte in der globalen Gesundheit erfordern eine enge weltweite Zusammenarbeit. Foto: mauritius images / Napaporn Leadprathom

662 GLOBAL HEALTH Forschung & Lehre 9|23 Partnerschaftlich international handeln Die Rolle der nationalen Public-Health-Institute als zentrale Akteure Die Covid-19-Pandemie hat dramatisch verdeutlicht, wie sehr der nationale Gesundheitsschutz mit dem Schutz internationaler Gesundheit verbunden ist. Diese Vernetzung hat auf nationaler Ebene, zum Beispiel in Deutschland, konkrete Auswirkungen auf die Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit. Der Gesundheitsschutz ist nicht nur auf das „eigene“ nationale System der öffentlichen Gesundheit angewiesen, sondern eben auch auf die Systeme in anderen Ländern auf der ganzen Welt. Vor dem Hintergrund dieser gegenseitigen Abhängigkeit sind Kooperationen und Partnerschaften zwischen nationalen Akteuren, aber auch multilateralen Akteuren wie den Vereinten Nationen und deren Organisationen, z.B. der Weltgesundheitsorganisation (WHO), unabdingbar. Dabei ist die enge Zusammenarbeit wesentlich, um Vertrauen aufzubauen, das im Falle einer Krise gemeinsames Handeln ermöglicht. Hier sind nationale Public-Health-Institute – wie das Robert Koch-Institut (RKI) in Deutschland – wichtige Akteure. Erreger früh erkennen – Maßnahmen schnell einleiten Das frühzeitige Erkennen von Fällen übertragbarer Erkrankungen mit dem Ziel, die Weiterverbreitung von Infektionen zu verhindern, ist ein wesentlicher Teil der Pandemievorsorge und von Global Health. Im Idealfall führt die Früherkennung dazu, Ausbrüche zeitig einzudämmen und so künftige Pandemien zu vermeiden. In vielen Ländern, besonders denen mit mittlerem und geringerem Einkommen, bedeutet das ganz konkret, dass z.B. Laborkapazitäten zur zeitgerechten Diagnose von Erregern gestärkt werden müssen. Hier sprechen wir sowohl von einer Stärkung der Personalkapazitäten in öffentlicher Gesundheit, wie auch von der Schaffung materieller Voraussetzungen. Bei der Früherkennung von übertragbaren Erkrankungen ist z.B. die Gensequenzierung mit der Möglichkeit, frühzeitig neue Erregervarianten zu erkennen, ebenso wichtig wie Routineüberwachungssysteme von meldepflichtigen und neuartigen Erkrankungen. Sowohl bei der Diagnostik, als auch bei der Überwachung und zeitnahen Datenauswertung nehmen nationale Public-Health-Systeme eine ganz wesentliche Rolle ein. Um auf Ausbrüche von Infektionskrankheiten so schnell wie nötig reagieren zu können, müssen zudem lokale, regionale und globale Krisenreaktionskapazitäten weiter gestärkt bzw. ausgebaut werden. Hier gibt es bereits erfolgreiche Programme wie das Global Outbreak Alert und Response Network der WHO. Auch die WHO-Initiative der Emergency Medical Teams unterstützt nationale Gesundheitssysteme weltweit dabei, Krisenreaktionsstrukturen zu aktivieren und Maßnahmen umzusetzen. Beide Netzwerke ermöglichen es, im Krisenfall Expertinnen und Experten schnell überall auf der Welt zu entsenden, und stellen damit ein Beispiel für einen globalen Hilfsmechanismus und die Zusammenarbeit auf internationaler Ebene dar. Neben nationalen Public-HealthInstituten spielen zunehmend auch supranationale Ansätze eine Rolle; so gibt es für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union das European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) und auf dem afrikanischen Kontinent das Africa CDC. Diese regionalen Organisationen ermöglichen nicht nur gegenseitiges Lernen, Austausch und Unterstützung, sondern werden auch durch ihren regionalen Ansatz über nationale Strukturen hinweg eher dem Verlauf von Ausbrüchen gerecht. Trotz der großen Wichtigkeit nationaler und globaler Strukturen in der Pandemievorsorge und Krisenreaktion, ist eine Umsetzung von Gesundheitsmaßnahmen immer an die Bevölkerung an sich und ihr Vertrauen in nationale und globale Institutionen gebunden. Da es die lokale Bevölkerung ist, die schlussendlich die Interventionen mitumsetzt, sind die Kommunikation und Akzeptanz von Handlungs- | JOHANNA HANEFELD | SOPHIE MÜLLER | Globale Gesundheit ist eine interdisziplinäre Herausforderung – für die Forschung, vor allem aber in der Praxis. Worauf kommt es bei der nationalen und internationalen Zusammenarbeit an? Wie greifen Global Health und One Health ineinander? AUTORINNEN ProfessorinJohanna Hanefeldleitet das Zentrum für Internationalen Gesundheitsschutz am Robert Koch-Institut. Dr. Sophie Müller ist Wissenschaftlerin in der Geschäftsstelle des Zentrums für Internationalen Gesundheitsschutz am Robert KochInstitut. Foto: Global Health Hub Germany /Thomas Ecke Foto: RKI

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