Forschung & Lehre 09/2023

676 UKRAINE-KRIEG Forschung & Lehre 9|23 Vor mehr als einem Jahr, am 24. Februar 2022, begann die Invasion russischer Truppen in die Ukraine. Seitdem dauert der Angriffskrieg Russlands an. Die Nato- und EU-Staaten beschlossen rasch umfangreiche Sanktionen gegen Russland, die auch die Wissenschaftslandschaft des Westens und der russischen Föderation betreffen. Forschung & Lehre hat bei 24 von 31 Slawistik-Instituten an deutschen Hochschulen nachgefragt: Wie machen sich die Sanktionen an den einzelnen Instituten konkret bemerkbar? Wie gehen die Professorinnen und Professoren an den Lehrstühlen mit den Konsequenzen der Sanktionen um? Wie schätzen sie persönlich die Auswirkungen der Sanktionen im Wissenschaftsbereich ein? 15 Institutsprofessorinnen und -Professoren haben geantwortet. Deutlich wird zunächst, dass die konkreten Folgen für die Lehre und Forschung, abseits der grundsätzlichen allgemeinen Zustimmung zu den Maßnahmen, als gravierend und weitreichend eingeschätzt werden. „Es gibt fast keine administrativen und wissenschaftlichen Kontakte mit Russland mehr. Unser Institut war mit einer Reihe von Universitäten und anderen Institutionen in Russland in Forschung und Lehre vernetzt. Diese Netzwerke sind weitestgehend zerstört“, so Slawistik-Professor Matthias Freise, Universität Göttingen. Teilweise jahrzehntelange Kooperationen, gemeinsame Forschungs- und Partnerschaftsprogramme sind ausgesetzt. „Unendlich viele Vorarbeiten laufen nun ins Leere“, sagt Professorin Henrieke Stahl, Universität Trier. Weiterhin sind Doppel-Abschlussprogramme auf Eis gelegt bzw. ausgesetzt. „Dies betrifft unter anderem das traditionsreiche Rossicum, einen Sommersprachkurs, der über Jahrzehnte in enger Kooperation mit der Staatlichen Universität Petersburg organisiert wurde“, erzählt Professorin Marion Krause, geschäftsführende Direktorin des Instituts für Slawistik in Hamburg. Konkrete Folgen für Lehre und Forschung Als eine der gravierendsten Folgen werden das Verbot von Forschungskooperationen und die daraus entstehenden Dilemmata genannt. Professor Daniel Bucic, Universität zu Köln, nennt ein Beispiel: „Eine Mitarbeiterin des Instituts hatte vor dem 24. Februar 2022 einen Projektantrag über die Russische Gebärdensprache bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft eingereicht, in dem sie die Kooperation mit einer Kollegin in Russland angekündigt hat, die dazu umfangreiche Sprachdaten besitzt. Nach dem 24. Februar 2022 wurde ihr gesagt, dass der Antrag nicht bewilligt werden könnte, weil Kooperationen mit Russland unmöglich seien. Daraufhin hat sie eine schriftliche Versicherung abgegeben, dass sie auf jegliche Kooperation mit russischen Kolleginnen und Kollegen verzichten werde. Der Antrag wurde bewilligt, jedoch hatte sie dann keine Datengrundlage für ihre Forschung“. In Folge der Sanktionen sind zudem Forschungsreisen nach Russland nur eingeschränkt bis gar nicht möglich. Unter anderem kann dadurch auf das Material in russischen Archiven und Bibliotheken nicht mehr zugegriffen werden. Die spärlichen Reisen seien zudem um ein Vielfaches teurer, da meistens Umwege über die Türkei nötig wären, so Bucic. Der wissenschaftliche Austausch auf Konferenzen sei nahezu völlig zum Erliegen gekommen, so Professorin Katrin Schlund, Universität Halle. Eine weitere Frage stellt sich nach der Zukunft internationaler slawistischer Fachzeitschriften, eine unverzichtbare Möglichkeit, sich wissenschaftlich auf internationaler Ebene auszutauschen. „Die Beiträge russischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler [werden] immer weniger. Wenn doch noch Kolleginnen und Kollegen Beiträge einreichen, herrscht Unsicherheit, unter welchen Umständen man diese annehmen oder ablehnen kann“, so Bucic. Neben Fachzeitschriften betrifft dies auch Lehrbücher, Jahrbücher und andere wissenschaftliche Fachliteratur, die von den slawistischen Lehrstühlen nicht oder nur sehr eingeschränkt herausgegeben werden können. „Die Bücher und andere Publikationen werden sofort anachronistisch“, bringt Professorin Mirja Lecke von der Universität Regensburg das Problem Zerstört, eingefroren und ausgesetzt Was passiert an und mit den Slawistik-Instituten in Deutschland seit dem russischen Überfall auf die Ukraine? | FRIEDERIKE INVERNIZZI | Während Sanktionen in der internationalen Politik und Wirtschaft schon länger gang und gäbe sind, sind sie für die Wissenschaft als Folge des Ukraine-Kriegs neu. Ein Blick auf die Situation der Slawistik-Institute in Deutschland kann als beispielhaft für die Herausforderungen, die sich der deutschen, aber auch der internationalen Wissenschaft stellen, gelten. AUTOR I N Friederike Invernizzi ist Redakteurin bei der Zeitschrift Forschung & Lehre. Foto: Nils Bergengruen/DHV

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