Forschung & Lehre 09/2023

9|23 Forschung & Lehre EN I GMA 735 Enigma Wer ist’s? Von Elmar Schenkel* Durch die Geschichte der Wissenschaft gleitet sie auf Schlittschuhen – sie liebte das winterliche Vergnügen. Auch Pferderennen liebte sie, wie es sich für britische Adlige geziemt. Verschuldet war sie wie ihr berühmter Vater, und wie er hatte sie so manche Affären. Nie aber sah sie ihn, denn er verließ Frau und Kind kurz nach der Geburt. Später starb er in Griechenland, das sich von den Türken befreien wollte. Wenigstens hatte er ein Bild von ihr auf seinem Schreibtisch stehen. Erst zu ihrem 20. Geburtstag durfte sie ein Porträt von ihm sehen. In einem seiner Verse ließ er sie erscheinen. War der Vater der Phantasie und Passion verpflichtet, so hielt die Mutter dagegen: mit Mathematik. Ihr Mann nannte sie gar die „Prinzessin der Parallelogramme.“ Dieses Erbe wollte die Mutter an die hochbegabte Tochter weitergeben. Und es sollte ihr gelingen. Doch die Tochter war zunächst viel krank, wie sie überhaupt in ihrem kurzen Leben oft krank war. Das viele Liegen verhalf ihrer Phantasie jedoch zu Höhenflügen. Tatsächlich dachte sie viel über den Traum vom Fliegen nach und träumte dabei nicht nur, sondern stellte auch Berechnungen an. In ihrem „Flugzimmer“ baute sie fliegendes Gerät und konstruierte in Gedanken schon eine Dampfmaschine, die durch die Luft segelt – in Vorwegnahme von Jules Verne, der erst 13 Jahre nach ihr geboren wurde. Während der Körper ihr schwer zu schaffen machte, konnte der Geist jedoch abheben. Mit der bildungsbeflissenen Mutter unternahm sie eine Reise in den englischen Norden, den die Industrialisierung mit Minen, Fabriken und Spinnereien überzogen hatte. Als sie 17 war, lernte sie einen der berühmtesten Männer des Landes kennen – ein vielseitiges Genie, das Wirtschaft, Mathematik und Ingenieurkunst beherrschte. Sie übersetzte ihm ein französisches Traktat über seine eigene Rechenmaschine, machte bewundernswerte Anmerkungen dazu und wurde so zu seiner Mitarbeiterin und mathematischen Assistentin. Als Mathematikerin nahm sie Kontakt auf mit der großen Naturwissenschaftlerin Mary Somerville, die sie fortan unterstützte in einer Welt, die vom weiblichen Verstand nicht viel wissen wollte. Für ihren Freund und Meister, der selbst abenteuerlich und experimentell dachte – einst hatte er sich in einem Ofen backen lassen, um zu sehen, wie lange er es aushalten würde –, wurde sie zur idealen Dialogpartnerin, die seine Rechenfehler aufdeckte, selbst Berechnungen durchführte und den Bau seiner zweiten Maschine begleitete. Dabei hatte sie weitgehende Intuitionen, die geradewegs in das 21. Jahrhundert und das Feld der Künstlichen Intelligenz reichen. Sie heiratete einen Earl, der sich in die Royal Society, dem höchsten Forschungsgremium des Landes, aufnehmen ließ. Dadurch hatte sie, der als Frau der Zutritt verwehrt war, Zugänge zu Büchern und Artikeln, denn ihr Mann fertigte Kopien für sie an. Dennoch wurde das Leben in der Familie schwer. Kinder und gesellschaftliche Verpflichtungen ließen ihr keine Zeit mehr für ihre Wissenschaft. Sie begann Affären, wurde abhängig von Opium und Alkohol und verspielte Unsummen in Pferderennwetten, bei denen sie glaubte, ein sicheres System zu haben. Sie starb mit 36. In ihren Briefen wird deutlich, dass sie eine unruhige Reisende war zwischen dem Reich der Materie und den vielen Reichen des Geistes, in denen sich der Traum und die Mathematik verbinden können. Als das amerikanische Verteidigungsministerium den Namen für eine neue Computersprache brauchte, einigte man sich auf ihren Namen in Kurzform. Damit sollte sie als erste Programmiererin der Geschichte geehrt werden. Mehrere Romane wurden über sie geschrieben. In einem Steampunk-Roman, in dem spekuliert wird, wie das viktorianische Zeitalter ausgesehen hätte, wäre der erste Computer gebaut worden, hält sie eine Vorlesung. In ihrem Namen werden Preise an Mathematikerinnen und Informatikerinnen ausgeschrieben. Jeden zweiten Dienstag im Oktober feiert die aufgeklärte Welt einen nach ihr benannten Tag, um Frauen ein größeres Gewicht in den Naturwissenschaften zu geben. * Elmar Schenkel ist em. Professor für Englische Literatur an der Universität Leipzig. Er ist freier Mitarbeiter bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Im S. Fischer Verlag erschien sein Buch „Unterwegs nach Xanadu. Begegnungen zwischen Ost und West“. Lösung Seite 702.

RkJQdWJsaXNoZXIy MjMxMzg=