Forschung & Lehre 12/2023

12|23 Forschung & Lehre 897 STANDPUNKT Überlaufende E-Mailkonten, enge Deadlines für die Einreichung eines Drittmittelantrags über ein Online-Portal und ein Desktop voller durchzuschauender Abschlussarbeiten im PDF-Format. Kommt Ihnen das bekannt vor? Dazu kommen Medienanfragen, Tätigkeiten als Gutachterin oder Gutacher für Fachzeitschriften und in meiner Zunft das Schreiben von Ethikanträgen. Die Herausforderungen rund um den Beruf der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind im Zeitalter der Digitalisierung komplex. Auf der einen Seite ist es durch die Digitalisierung deutlich leichter geworden, Artikel bei Fachzeitschriften einzureichen (man denke daran, dass früher Manuskripte per Post verschickt wurden!). Zusätzlich haben die vielen Digitalmöglichkeiten internationale Kooperationen deutlich vereinfacht und Wissen lässt sich heute schneller verbreiten. Die digitale Kommunikation via E-Mail & Co. bedeutet aber auch ein Massenaufkommen an zu beantwortenden Nachrichten. Weiterhin hat die Smartphone-Revolution ihr Übriges getan, um bei vielen Menschen die Erwartungshaltung zu wecken, dass alles sofort passieren muss. Zumindest gefühlt wird von allen Seiten an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gezerrt. Das Kerngeschäft Forschung und Lehre wird durch das digitale Dauerfeuer erschwert. Einen Ausweg zu finden ist nicht leicht. Das zu erreichende Ziel ist für mich aber klar: Es bedarf mehr Zeit für konzentriertes Arbeiten. Ohne klar definierte Zeiten für „Deep Work“ ist es schwer, im Alltag überhaupt noch zu forschen, die Lehre in Ruhe vorzubereiten und etwas Sinnvolles zu Papier zu bringen. Als Reaktion auf die digitale Flut verfolge ich schon seit Jahren die Strategie, dass ich einen Arbeitstag in der Woche „für mich“ freihalte. Dort gibt es keine digitalen Videokonferenzen oder andere Termine, auf die ich reagieren müsste. An diesem Tag komme ich zu dem für mich wichtigen Kerngeschäft meines Berufs als Hochschulprofessor: zum Lesen, Nachdenken, Daten analysieren und Schreiben. Um nicht abgelenkt zu werden, schirme ich mich an diesem Tag stark ab. Es liegt kein Smartphone auf dem Schreibtisch, das E-Mail-Postfach ist meistens geschlossen und lediglich die für mich wichtigen Digital-Werkzeuge sind auf dem Bildschirm geöffnet. Ich lese auch gerne wissenschaftliche Arbeiten auf Papier. Was für manche Leserinnen und Leser digitalisierungsfeindlich klingen mag, wird durchaus empirisch untermauert. Einige Studien legen nah, dass die physikalische Anwesenheit des Smartphones neben der Tastatur bereits die Performanz reduzieren kann. Zusätzlich wird in Studien berichtet, dass eine überbordende Smartphone-Nutzung mit schlechteren Lernleistungen einhergehen kann. Laut einer Meta-Analyse könnte das Leseverständnis von komplexen Texten interessanterweise durch das Lesen auf dem Papier im Vergleich zum digitalen Lesen mehr angeregt werden. Weiterhin sollte bei dem ganzen Digitalwahnsinn nicht vergessen werden, dass eine ganze Industrie rund um die sozialen Medien nach unserer Aufmerksamkeit lechzt und uns über ausgeklügeltes Plattform-Design in jeder freien Minute auf die Plattformen bringen will. So großartig die vielen digitalen Möglichkeiten sind: Das Schaffen einer klaren Struktur im Arbeitsalltag scheint mir zentral für den wissenschaftlichen Erfolg im Zeitalter der digitalen Dauerbeschallung zu sein. Digitaler Alltagswahnsinn Christian Montag ist Professor für Molekulare Psychologie am Institut für Psychologie und Pädagogik an der Universität Ulm.

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