Forschung & Lehre 09/2023

9|23 Forschung & Lehre GLOBAL HEALTH 661 als andere. Prominente Beispiele sind HIV oder Malaria. Die Erkrankungen treten vor allem in Ländern auf, in denen die Wirtschafts- und Zahlungskraft nicht hoch ist. Es gibt zu wenig Geld für die Entwicklung der Impfstoffe. Die Bill & Melinda Gates Foundation hat mehrere Milliarden Euro in die Hand genommen, um diese Lücke zu füllen. Das sollte jedoch keine private Stiftung übernehmen müssen. Die Staatengemeinschaft sollte gemeinsam die Erforschung der Impfstoffe finanzieren und die Forschungsaktivitäten koordinieren. Dies ist eine ethische Verpflichtung der Industrieländer. F&L: Die Staatengemeinschaft kann zu vielen Gesundheitsfragen nur Rahmenkonzepte entwickeln. Deren Umsetzung liegt meist auf nationaler Ebene. Sie haben selbst für die WHO gearbeitet – was kann die Staatengemeinschaft tun, damit Vorhaben effektiver umgesetzt werden? Jonas Schreyögg: Mitgliedstaaten müssen sich besser austauschen. Die Probleme haben sich auf europäischer Ebene während Corona etwa darin gezeigt, dass jedes Land andere Regeln für die Kontrolle von Reisenden hatte. In der Kontrolle von Pandemien brauchen wir einheitliche Mechanismen. Der Ausbau der EU-Gesundheitsbehörde (ECDC) ist ein wichtiger Schritt, um das zu erreichen. Politikerinnen und Politiker sollten außerdem auf Staatenebene beschlossene Vorhaben mutig in nationale Gesetze übertragen. Das passiert häufig nicht und führt dazu, dass sich Verwaltungshandeln verselbstständigt. F&L: Können Sie ein Beispiel nennen? Jonas Schreyögg: Die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) etwa legen die EU-Staaten sehr unterschiedlich aus. Bei EU-Projekten muss ich für meine Forschung in dem einen Land ein kurzes Formular ausfüllen, um an bestimmte Daten zu kommen. In dem anderen Land muss ich mich dafür verrenken und dann sind die Daten auch noch unvollständig, oder jedes Land stellt unterschiedliche Daten bereit. Ein großer Teil meiner aktuellen Arbeitszeit würde entfallen, wenn ich etwa Krankenhausdaten über den geplanten Europäischen Raum für Gesundheitsdaten (EHDS) zusammenführen könnte. F&L: Wie erreichen wir mehr Einheit im europäischen Datenaustausch? Jonas Schreyögg: Der Rat der Europäischen Union, in dem die nationalen Ministerinnen und Minister zusammenkommen, müsste sich der Aufgabe annehmen und gegenüber den Ländern auf gesetzliche Vereinheitlichungen drängen. Das ist aufwendig, aber notwendig. Wir müssen die Hürden für eine effektive europäische Zusammenarbeit dringend abbauen, um zu anderen Wissenschaftsstandorten wie den USA aufzuschließen. F&L: Gesundheitssysteme lassen sich nicht 1:1 aufeinander übertragen. Dafür sind die nationalen Anforderungen zu unterschiedlich. Was können Länder auf europäischer und internationaler Ebene dennoch voneinander lernen, um ihr Gesundheitssystem möglichst qualitativ und effizient zu gestalten? Jonas Schreyögg: Länder – darunter auch Deutschland – sollten die ambulante und stationäre Versorgung stärker integrieren. In Deutschland beispielsweise werden diese Bereiche der Gesundheitsversorgung noch größtenteils getrennt betrachtet. Krankenhäuser werden zu sehr als rein stationäre Versorger gesehen. Wir sollten sie stattdessen als hybride Zentren betrachten. Viele Operationen wie zum Beispiel ein Leistenbruch könnten bei den meisten Menschen ambulant behandelt werden. Stationär aufgenommen werden müssten nur Menschen, die sich im Anschluss an einen Eingriff nicht selbst versorgen können. Dadurch würden Personalressourcen gespart, die an anderer Stelle gebraucht werden könnten. Auch wäre die Behandlung niedrigschwelliger, als sie es bislang ist. In vielen Ländern wie Großbritannien ist das schon die Regel. In Deutschland gehen wir über die Krankenhausreform in diese Richtung. Es ist ein kultureller Wandel, der Zeit benötigt. F&L: Wo können Länder ansetzen, deren Gesundheitssystem noch sehr schwach ist? Jonas Schreyögg: Zunächst brauchen Länder einen Gesundheitskatalog. Er definiert, welche Leistungen Bürgerinnen und Bürger über den Staat erhalten und welche nicht. Das sorgt dafür, dass sie die staatlichen Leistungen eher in Anspruch nehmen. Beim Aufbau einer Infrastruktur kommt es ganz darauf an, auf welchem Stand ein Gesundheitssystem ist. Es beginnt unter anderem bei einer Grundversorgung mit Wasser und Nahrungsmitteln. Public-Private-Partnerships spielen eine wichtige Rolle in der Entwicklung und Finanzierung einer medizinischen Infrastruktur, auch weil staatliche Organisationen wie die der UN nicht in allen Ländern dieselbe Akzeptanz haben. Der Neuaufbau eines Gesundheitssystems kann auch eine Chance sein. Singapur ist dafür ein Beispiel. Das Land hat sein Gesundheitssystem 1984 nach den Empfehlungen einiger Harvard-Professoren nach aktuellen wissenschaftlichen Standards komplett neu aufgesetzt. In den europäischen Ländern sind die Gesundheitssysteme über Jahrzehnte historisch gewachsen und können nur Schritt für Schritt an neue Anforderungen angepasst werden. Die Fragen stellte Katrin Schmermund. Fortschritte in der globalen Gesundheit erfordern eine enge weltweite Zusammenarbeit. Foto: mauritius images / Napaporn Leadprathom

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