Forschung & Lehre 09/2023

Patientenkontakt, in der Pathophysiologie oder auch die Bewältigung der anstehenden Reformen erscheinen da viel drängender als zunächst einmal abstrakt wirkende Global-Health-Themen. M.E. braucht es im Medizinstudium eine Refokussierung auf das, was der ärztlichen Tätigkeit später wirklich dient. Dazu gehört Global Health, da es eine Grundperspektive in das Studium einbringt, die langfristig der medizinischen Ausbildung insgesamt dient. Eine Studie aus Kanada zeigt, dass Studierende, die sich mit Global Health beschäftigen, mit höherer Wahrscheinlichkeit später allgemeinmedizinisch tätig werden. Das Verständnis für supraterritoriale Determinanten ist ihnen deutlich bewusster, gleichzeitig motiviert es sie, sich auch mit dem Individuum auseinanderzusetzen. Schließlich dient gut unterricht ete globale Gesundheit dazu, unbewusste Biases (normative und kulturelle Grundannahmen) aufzudecken. Ein besseres Verständnis für die globalen Zusammenhänge und auch für die eigene Rolle in der globalen Welt ist definitiv Teil von Global Health. F&L: Wie wichtig ist die ethische Dimension beim Thema Global Health? Matthias Havemann: Die Frage ist, wo lernt ein Medizinstudierender ethisches Verhalten? Natürlich gibt es Fächer wie Ethik im Curriculum. M.E. reicht das aber nicht aus, um wirklich ethisch handelnde Ärzte und Ärztinnen auszubilden. Gerade für Dilemmata im medizinischen Alltag, die Ärztinnen und Ärzte vielleicht nicht einmal bewusst wahrnehmen, ist ein Blick nach außen extrem aufschlussreich. Ob es um den Einfluss von Patentstreitigkeiten in Nigeria oder die Verfügbarkeit von HIV-Medikamenten vor Ort geht: Ich denke darüber nach, wie sieht das eigentlich hier aus? Der Blick nach außen hilft, den Blick nach innen zu schärfen. F&L: Welche Defizite sehen Sie aktuell noch im Medizinstudium? Matthias Havemann: Der Großteil der Medizinstudierenden sowie der angehenden Ärztinnen und Ärzte unterschätzt, wie stark die soziale Dimension im Klinikalltag sein wird und an wie vielen Stellen Ärztinnen und Ärzte nicht primär mit einem medizinischen, sondern mit einem sozialen Problem konfrontiert sind. Darauf sind wir extrem schlecht vorbereitet. F&L: Wie zeigt sich das im Klinikalltag und wie kann Global Health dem entgegenwirken? Matthias Havemann: Es birgt ein ziemlich hohes Konfliktpotenzial im Umgang mit Patienten und Angehörigen und führt zu Therapien, bei denen Ärztinnen und Ärzte über die mangelnde Therapieadhärenz frustriert sind und Patientinnen und Patienten über das vermeintlich falsche Therapie-Ziel. Es führt zu zahlreichen Konflikten innerhalb der Klinik, weil ein Bewusstsein für die zugrundeliegenden Einflüsse von Gesundheitsentscheidungen nicht vorhanden ist und die eigene Perspektive als die normative angenommen wird. Der Großteil der Medizinstudierenden kommt aus einem relativ privilegierten Familienhintergrund. Die Konfrontation mit sozial prekären Situationen findet nicht im Alltag der Studierenden, sondern zum ersten Mal in der Klinik statt, wenn sie einem entsprechenden Patienten gegenübersitzen. Global Health im Medizinstudium kann darauf vorbereiten, dass es verschiedene Perspektiven gibt und soziale sowie ökonomische Faktoren in einem fast immer unterschätzten Ausmaß Gesundheitsentscheidungen, Präventionsmöglichkeiten und den Zugang zur Gesundheitsversorgung prägen. Die Fragen stellte Vera Müller. 9|23 Forschung & Lehre GLOBAL HEALTH 667 Foto: mauritius images / Adnan -Hidayat32 / Alamy / Alamy Stock Photos

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